© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Pankraz,
Gottfried Schatz und die gezähmten Gene

Jetzt, da sich das demagogische Gebrüll der PC-Wächter gegen den „verbrecherischen Biologismus“ in dem Buch von Thilo Sarrazin ein bißchen gelegt hat, ist eine gute Gelegenheit, an gewisse Fakten zu erinnern. Immer deutlicher  schält sich in der neuesten Forschung heraus: Von den „Genen“ hängt zweifellos viel ab, aber unser Schicksal sind sie nicht. Eine ganze neue Forschungsrichtung ist im Zeichen dieser Einsicht entstanden: die „Epigenetik“, welche also das „auf den Genen Liegende“ zum Thema macht.

Man fand heraus, daß viele Gene winzige chemische Markierungen, sogenannte „Methylgruppen“, aufwiesen, die das Gen selbst zwar materiell nicht im geringsten veränderten, jedoch seine Informationskraft und deren Folgen sichtlich bestimmten, es für die aktuelle Situation im Gesamtkörper gewissermaßen empfindlich machten. Offenbar waren die Methylgruppen für die Gene Signalgeber, die anzeigten, ob und wann sie ihre Info-Potenz zu entfalten hatten.

Lange hielt man die Methylisierung der Gene für einen Vorgang, der lediglich in der frühesten Keimphase neuen Lebens eine Rolle spielt. Wenn der Samenfaden die Eizelle befruchtet, verschwinden fast alle Methylgruppen, die Zellen gleichen dann unbeschriebenen Blättern. Reift der Embryo heran, werden die Gene wie aus dem Nichts eins nach dem anderen methylisiert, je nachdem zu welchen Organen sich die Zellen jeweils ausbilden sollen, ob sie  Nervenzellen, Leberzellen oder Herzzellen usw. werden sollen (und dies, wohlgemerkt, obwohl alle Zellen das gleiche Genom, das gleiche Erbgut, in sich tragen).   

Zur Zeit ist die Epigenetik eifrig dabei, die Gen-Methylisierung auch jenseits des embryonalen Entwicklungsstadiums nachzuweisen und ihre Konsequenzen freizulegen. „Unsere Gene“, schreibt der Schweizer Biochemiker Gottfried Schatz in seinem sensationellen Buch „Jenseits der Gene“ (Zürich 2008), „sind keineswegs unabänderliche Gesetze, sie können sich als Antwort auf die Umwelt oder unseren Lebenswandel sehr wohl verändern“.

Und weiter heißt es bei Schatz: „Natürlich wußten wir schon lange, daß Umweltgifte, Radioaktivität, Viren oder Fehler bei der Zellteilung die Reihenfolge der vier chemischen Buchstaben in unseren Genen verändern und damit erbliche Mutationen auslösen können. Solche Mutationen sind jedoch sehr selten und treffen ein Gen rein zufällig. Nun aber wissen wir, daß im Verlauf unseres Lebens manche Gene auch durch die chemische Markierung einzelner Buchstaben gehemmt oder abgeschaltet werden und daß solche Markierungen sogar erblich sein können.“

Das Markierungszeichen ist, wie gesagt, eine Methylgruppe, ein kleines Gebilde aus drei Wasserstoffatomen und einem Kohlenstoffatom. Wenn sich eine solche Methylgruppe an ein Gen anheftet, zieht sie Proteine an, die das Gen regelrecht einhüllen und es damit allem Anschein nach in seiner Funktion hemmen oder gänzlich ausschalten. Das ist indessen keine Mutation, die aus dem Nichts blind zuschlägt und den Körper eventuell in total neue Bahnen zwingt oder gar zerstört, sondern es ist eine von Körperfunktionen und auch Willenseinflüssen bewirkte, „sanfte“ Veränderung, welche gleichsam die Optimierungssehnsüchte des gesamten Phänotyps im Auge behält.

Würde man für die vier bekannten Gen-Buchstaben die Alphabet-Buchstaben a, b, c und h einsetzen, dann würden in einer klassischen Mutation – die Spekulation stammt von Gottfried Schatz – aus dem Wort „bach“ vielleicht die Buchstabenfolgen „bbch“, „bcch“ oder „bhch“ entstehen, in Hinblick auf die aktuelle Lage des Phänotyps also völlig sinnlose Festlegungen;  in einer epigenetischen Veränderung hingegen würde aus dem „bach“ höchstens ein „bäch“, und das auch nur dann, wenn es vom Phänotpyp ausdrücklich gewollt worden wäre.

Teilte sich dann eine Zelle, kopierte sie die methylierten Buchstaben getreulich und gäbe sie an die Gene der Tochterzellen weiter. Daß das wirklich so ist, legen immer mehr epigenetische Forschungsergebnisse nahe. Wird etwa eine Pflanze ultraviolettem Licht ausgesetzt, aktiviert sie Reparaturmechanismen, um Strahlenschäden an den Genen wieder auszubügeln. Diese Mechanismen arbeiten auch in Abwesenheit von Ultraviolettlicht weiter und bleiben sogar über mehrere Generationen hinweg in den Nachkommen aktiv. Sie werden tatsächlich vererbt.

Ähnlich verhält es sich bei Rattenweibchen im Labor. Sie unterscheiden sich in der Zärtlichkeit, mit der sie ihre frisch geworfenen Jungen säugen; zärtlich gesäugte Junge sind dann für den Rest ihres Lebens besonders unempfindlich gegenüber Streß – und vererben diese Widerstandskraft an ihre Nachkommen! Dabei ist es gleichgültig, ob sie von ihrer Mutter oder von einer Amme gesäugt wurden. Die epigenetisch vermittelte Streßresistenz geht auf jeden Fall mit einer veränderten Methylierung von Genen einher, welche die Wirkung von Streßhormonen im Gehirn steuern.

Am Ende seines Buches findet Gottfried Schatz eine eindringliche Metapher für die wirkliche Funktion des Gens im Bau des Lebens. Er vergleicht das Gen mit dem Gesicht eines Greises. „Jeder alte Mensch“, zitiert er das Sprichwort, „hat das Gesicht, das er verdient. Genauso ist es mit den Genen. Sie erzählen nicht nur von den Jahrmilliarden des Lebens vor uns, sondern auch von den sieben oder acht Jahrzehnten des einzelnen Menschen (…) Auch ich bin dafür verantwortlich, was aus meinen Genen wurde. Es beruhigt mich zu wissen, daß die Natur die meisten meiner Lebensspuren aus ihnen löschte, bevor ich sie meinen Kindern vererbte. So gewährte sie diesen die Freiheit des Neuanfangs.“

Bezogen auf die aktuelle Sarrazin-Debatte bedeutet das: Was aus mir und meinen Kindern  wird, hängt auch und nicht zuletzt von mir selbst ab. Es ist eine kulturelle Entscheidung, eine Entscheidung von Individuen, Clan-Häuptlingen, nationalen oder religiösen Chefideologen.   Wer sich wirklich integrieren (und nicht nur schmarotzen oder erobern) will, wird von keinem Gen daran gehindert.

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