© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Lockerungsübungen
Die Kuh muß gefüttert werden
Karl Heinzen

Die schwarz-gelbe Koalition zeigt ungewohnte Einmütigkeit ausgerechnet auf einem Gebiet, das bislang nicht als ihre Domäne gelten durfte: Sowohl Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) als auch Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, haben sich dafür ausgesprochen, daß die Arbeitnehmer bei den nächsten Tarifrunden ihre Zurückhaltung aufgeben und eine markante Lohnerhöhung durchsetzen. Sie können sich zwar darauf berufen, daß sie nicht von ihrem sozialen Gewissen geleitet werden, sondern schlicht dem Rat von Wirtschaftsexperten folgen, die eine Stärkung der deutschen Binnennachfrage empfehlen. Die Unternehmen unseres Landes hegen gleichwohl das Gefühl, in einer verkehrten Welt zu leben: Sollte nun, nachdem eine rot-grüne Regierung die Grundfesten der Sozialen Marktwirtschaft demontiert hat, ausgerechnet ihre bürgerliche Nachfolgerin deren klammheimliche Wiederherstellung betreiben wollen?

Die Regierung muß den realen gesellschaftlichen Machtverhältnissen Rechnung tragen.

So weit muß und wird es wahrscheinlich nicht kommen. In der Praxis arbeitet diese Bundesregierung, wie etwa ihre Vorschläge zur Minimalerhöhung der Hartz-IV-Sätze unter Beweis gestellt haben, konsequent daran, sozialstaatliches Anspruchsdenken auf den Boden der finanzpolitischen Tatsachen zurückzuführen. Auch präjudizieren populistische Vorstöße von Repräsentanten der Koalition ja nicht die Abschlüsse, die in den Tarifverhandlungen tatsächlich erzielt werden. Allerdings muß die Regierung den realen gesellschaftlichen Machtverhältnissen Rechnung tragen. Die Bürger mit geringem oder mittlerem Einkommen stellen die überwältigende Bevölkerungsmehrheit und könnten nicht nur an den Wahlurnen Denkzettel verteilen. Sie sind, falls der Bogen überspannt wird, möglicherweise sogar imstande, von den europäischen Nachbarn zu lernen und zu Protestformen zurückzufinden, von denen man hoffen durfte, sie wären ihnen ausgetrieben.

Der soziale Frieden gehört zu den Standortvorteilen Deutschlands, und er hat leider seinen Preis. Auch jene, die man als Wohlhabende bezeichnen darf, haben sich der Notwendigkeit zu beugen, daß man die Kuh, die es zu melken gilt, füttern muß. Dies heißt ja nicht, daß die Gesetze der Marktwirtschaft aufzuheben sind und man davon Abstand zu nehmen hätte, aus der Arbeit anderer einen Profit zu ziehen.

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