© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

Offizielle Arbeitslosenzahl unter drei Millionen gesunken
Nürnberger Märchen
Jens Jessen

Von Vollbeschäftigung wird gesprochen, wenn eine Arbeitslosenquote unter vier Prozent erreicht ist. Bayern hat mit der Marke 3,8 Prozent dieses magische Ziel erreicht. Im Oktober 2010 war Deutschland mit einer offiziellen Arbeitslosenquote von sieben Prozent von Vollbeschäftigung allerdings noch weit entfernt. Das hat den Chef der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, nicht davon abhalten können, eine Vision zu verkünden: bis 2020 könnte ein ausgeglichener Arbeitsmarkt entstehen. Die demographische Entwicklung in Deutschland mag diese Vision stützen. Im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts muß ein steigender Anteil der Erwerbsfähigen deutlich länger arbeiten als heute, um das Rentensystem finanzieren zu können.

Die Politik hat allerdings immer wieder die Definition von Arbeitslosigkeit so umformuliert, daß die gemeldeten Arbeitslosenzahlen wider jeglichen Wahrheitsgehalts abnahmen. In der offiziellen Arbeitslosenstatistik tauchen weder diejenigen auf, die an Maßnahmen der Arbeitsförderung teilnehmen, noch jene, mit deren Vermittlung private Anbieter beauftragt sind. Das gilt auch für solche, die sich nicht zur Arbeitssuche melden oder die nur weniger als 15 Stunden pro Woche arbeiten können. Auch die sogenannten Ein-Euro-Jobber bleiben statistisch außen vor. Für 2009 wies die Arbeitsmarktanalyse des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage eine verdeckte Arbeitslosigkeit von 1,56 Millionen Menschen aus. Für Oktober 2010 wird von 1,4 Millionen ausgegangen. Damit erhöht sich die Arbeitslosenzahl von geschönten 2,94 Millionen auf reale 4,34 Millionen. Da Politik und Tarifpartner schon 2008 die Weichen für eine nachhaltige Ausweitung des Arbeitsvolumens durch die Rücknahme von Arbeitszeitverkürzungen und den bundesweiten Ausbau der Krippenplätze gestellt haben, ist für das Jahr 2011 eine Annäherung an die 2010 genannte Zahl der Arbeitslosen zu erwarten.

Die Zunahme der Teilzeit- und befristeten Stellen – mittlerweile machen sie ein Drittel aller Arbeitsplätze aus – verdeckt, daß der Verlust von Vollzeitarbeitsplätzen dramatisch ist: Seit 1990 sind sechs Millionen Vollzeitstellen abgebaut worden. 1991 haben alle Arbeitnehmer in Deutschland 51,9 Milliarden Stunden gearbeitet. 2005 waren es noch 46,7 Milliarden Stunden. Der Aufschwung hat nur einen Teil des Rückgangs wettgemacht.

Im verarbeitenden Gewerbe ist – mit abnehmender Tendenz – nach wie vor ein Abbau an Vollzeitstellen zu beobachten. Neue Stellen entstehen in Dienstleistungsbranchen, die häufig auf Teilzeitregelung aufbauen und oft geringer bezahlt werden als die verlorengegangene Beschäftigung in der Produktion. Das Arbeitsvolumen steigt mehr als die Lohnsumme. Die Konsumquote verliert so an Dynamik – mit Folgen für das Wirtschaftwachstum in Deutschland.

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