© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

Die Stunde Null uff hessisch
Kriegsende bei Darmstadt
Ulrich Hoyer

Ein weiteres Kriegsbuch? Davon haben wir übergenug, könnten Skeptiker einwenden. Der Zweite Weltkrieg bildet zwar den Hintergrund des Buches von Christhard Richter, weicht aber in höchst origineller Weise von den herkömmlichen Schilderungen der Historiker ab. Es handelt sich nämlich um eine Darstellung des traurigen Geschehens aus der arglosen Kinderperspektive.

Der Verfasser, ein Jahr vor Kriegsbeginn geboren, hat im Nachlaß seiner Eltern ein Tagebuch gefunden, in dem sie das Leben ihrer Kinder liebevoll beschrieben haben. Er hat mitteilenswerte Passagen ausgezogen durch eigene Erinnerungen an die Nachkriegszeit ergänzt. Auf diese Weise ist ein Werk entstanden, dessen tragische Seite den Kriegsdienst des Vaters, eines Odenwälder Pfarrers, seine Flucht durch Süddeutschland und seine Gefangenschaft auf den Rheinwiesen bei Heidesheim und Bad Kreuznach schildert, die alltäglichen Mühen von Mutter und Großmutter um den Erhalt der Familie und nicht zuletzt auch die Bombennacht betrifft, die Darmstadt am 11. und 12. September 1944 in Schutt und Asche verwandelte.

Den ernsten Kapiteln stehen jedoch überaus amüsante Partien gegenüber, in denen die Kinder zu Wort kommen. Der besondere Reiz der Kindergespräche liegt darin, daß sie im Odenwälder Dialekt geführt wurden, den Mutter und Vater vortrefflich wiedergegeben haben. Nicht nur hierdurch hat dieses „etwas andere Kriegstagebuch eines Dorfjungen aus der Zeit vor, während und kurz nach dem 2. Weltkrieg“ in hohem Maße Leben in sich, das sich aus drei Eigenschaften seines Verfassers speist: einerseits aus einer ungewöhnlich guten Beobachtungsgabe samt einem intakten Langzeitgedächtnis, andererseits aus einer ebenso seltenen Ehrlichkeit, die auch vor der Wiedergabe problematischer Details nicht zurückschreckt, und nicht zuletzt aus einem großen Quantum naturwüchsigen Humors. Auch die gut gewählten, hübschen Schwarzweißaufnahmen unterstützen die realistische Sicht des Autors. Das Buch zeigt im übrigen, daß die Menschennatur, möge es bei den Großen auch drunter und drüber gehen, was die Kinder betrifft, im Grunde unverwüstlich ist.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen