© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

Kampf um die Deutungshoheit
Energiepolitik: Nach den tagelangen Auseinandersetzungen um den Castor-Transport nach Gorleben reklamieren die Atomkraftgegner den Sieg für sich
Marcus Schmidt

Unmittelbar nachdem die Castor-Behälter mit Atomabfällen am Dienstag das Zwischenlager im niedersächsischen Gorleben erreicht hatten, begann die Aufarbeitung. Während die Kernkraftgegner die wiederholten Blockaden des Transportes und die mediale Aufmerksamkeit für ihr Anliegen als Erfolg feierten, machte die Polizei, die der tagelange Einsatz von bis zu 17.000 Beamten  offenbar an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit geführt hat, ihrem Unmut Luft.

Dieser Einsatz habe alle Dimensionen gesprengt, beklagte der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt. „Wir werden im Anschluß an diesen Einsatz sehr sorgfältig nachzubereiten haben, ob die Polizei das in Zukunft noch so machen kann. Vor allem aber muß die Politik Antworten darauf finden, ob dieser massenhaft zelebrierte Rechtsbruch tatsächlich Ausdruck demokratischen Protestes sein kann. Das darf nicht länger auf die Gesundheit der eingesetzten Kollegen gehen.“ Der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, warf der Politik vor, sie habe die Polizei über Jahre hinweg immer weiter personell geschwächt. „Ich fordere die Bundesregierung und die Länder auf, diese fatalen Irrfahrten zu korrigieren“, sagte Freiberg.

Seit Freitag hatten Atomkraftgegner teilweise in Zusammenarbeit mit Linksextremisten versucht, die Castor-Behälter aufzuhalten. Dabei war es auch mehrfach zu Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen. Die Beamten mußten teilweise Wasserwerfer, Schlagstöcke und Reizgas einsetzen, um Angriffe gegen Beamte und die Gleisanlagen abzuwehren. Am Wochenende hatten Gewaltäter unter anderem versucht, einen Panzerwagen der Polizei in Brand zu setzen.

Die Auseinandersetzung um den Castor-Transport fand nicht nur auf den Bahngleisen, Straßen und Wäldern nach und um Gorleben statt – es war auch ein Ringen um die Deutungshoheit. Irritiert wurde vermerkt, daß die Atomkraftgegner, die ihre Proteste und Blockadeaktionen seit Monaten generalstabsmäßig geplant hatten, das ganze Wochenende über die Informationshoheit hatten. So konnte sich die immer wieder verbreitete Zahl von angeblich 50.000 Demonstranten, die sich am Sonnabend auf einem  abgeernteten Maisfeld zu einer Kundgebung versammelt hätten, in der öffentlichen Wahrnehmung festsetzen. Die Polizei sprach später von lediglich 25.000 Atomkraftgegnern.

Auffällig hielt sich auch die Bundesregierung zurück. Erst am Dienstag wurde eine Stellungnahme veröffentlicht, in der die Entsorgung von Atommüll als nationale Verantwortung gerechtfertigt wurde. Die Castor-Transporte nach Gorleben seien notwendig. „Wir können die Lasten der Vergangenheit nicht anderen aufbürden, für die sichere Lagerung des Atommülls sind wir verantwortlich“, sagte Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU).

Am Dienstag hatte der Castor-Transport aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague mit reichlich Verspätung das atomare Zwischenlager Gorleben erreicht. Mit 92 Stunden und 24 Minuten war es der bislang längste Atommülltransport. Greenpeace feierte den Erfolg mit stolzem Unterton als „Streckenrekord“. Doch der nächste Transport mit elf weiteren Behältern steht bereits im kommenden Jahr an. Es wird der letzte sein.

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