© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

Amerikanischer Alptraum
USA: EIne Weltmacht versinkt im Schuldenstrudel
Elliot Neaman

Kaum eine andere Frage beschäftigt sowohl Experten als auch die Bevölkerung in den USA derzeit so sehr wie das Rätsel, ob die amerikanische Wirtschaft noch zu retten ist – und wenn ja, wie. Immer wieder hört man den Vergleich mit dem „verlorenen Jahrzehnt“ in Japan, als die zweitgrößte Industrienation der Welt verzweifelt versuchte, die Finanzblase der späten achtziger Jahre hinter sich zu lassen.

In den USA droht eine ähnliche Entwicklung: Stagnation, Kollaps der Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen und Deflation – wegen der schwachen US-Exportindustrie aber gepaart mit dauerhaft hoher Arbeitslosigkeit. Die japanische Regierung nahm das Geld für ihre Konjunkturpakete aus den Sparguthaben der eigenen Bürger, während Washington weiter Schulden im Ausland aufnimmt – oder seine Staatspapiere direkt an die US-Notenbank Fed weitergibt, die dafür frische Dollar ausgibt.

Eine Möglichkeit, dem japanischen Teufelskreis zu entkommen, bestünde darin, die riesigen Schulden und Defizite zu ignorieren und die Ausgaben massiv zu erhöhen, um das Wachstum wieder in Schwung zu bringen – in der Hoffnung, daß sich dadurch die Wirtschaft erholen würde und die Schulden irgendwann abbezahlt werden könnten. Für einen derartigen Kurs plädiert Paul Krugman schon seit Beginn der Krise vor zwei Jahren. Der Wirtschaftsnobelpreisträger findet aber bislang kein Gehör. Die neuen Mehrheitsverhältnisse im US-Kongreß dürften diesen Weg vollends verbauen (siehe JF-Seite 9). Andere einflußreiche Stimmen, darunter der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson oder der Ex-Bush-Berater Robert Glenn Hubbard, warnen hingegen vor einer solchen „japanischen“ Politik, die die Probleme der USA ihrer Ansicht nach nur verschlimmern würde.

Die US-Haushaltsaufsicht (Congressional Budget Office) prognostizierte 2007 einen Anstieg der Staatsschulden von 62 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 87 Prozent bis 2020, 109 Prozent (Rekordmarke im Zweiten Weltkrieg) bis 2025 und 185 Prozent bis 2035. Bereits im Juni dieses Jahres wurde dies von der Realität übertroffen: Laut US-Finanzministerium lag die Staatsverschuldung bei über 13 Billionen Dollar (89,4 Prozent des BIP). Hinzu kommt die Verschuldung der Bundesstaaten und Kommunen sowie jene von Wirtschaft und Verbrauchern, die ein mehrfaches der Bundesschuld ausmacht, sowie das chronische Handelsbilanzdefizit.

Die wirtschaftlichen Probleme lassen sich nicht isoliert von der politischen Sphäre betrachten. Denn die Amerikaner vertreten zwei einander widersprechende Überzeugungen gleichzeitig: Einerseits glauben sie zumeist, daß die Regierung sich so wenig wie möglich in Wirtschaftsdinge einmischen, sondern dem privaten Sektor freie Hand lassen soll. Andererseits wehren sie sich aber gegen Einschnitte bei der Rentenversicherung (Social Security), der staatlichen Gesundheitsfürsorge für Senioren (Medicare) oder im Verteidigungsetat. Zusammen machen diese drei Posten sechzig Prozent des US-Haushalts aus. Läßt man auch die Fürsorge für Kriegsveteranen (Safety Net), den Bildungshaushalt, den Verkehrssektor und für die Staatsschuldzinsen unangetastet, dann bleiben noch sieben Prozent des US-Haushalts, wo gespart werden könnte.

Bildung und Forschung werden vernachlässigt

Zwei dieser sieben Prozent sind für wissenschaftliche und medizinische Forschung bestimmt: die niedrigste Quote seit der Zwischenkriegszeit. Wirtschaftsliberale, die die hohen Staatsausgaben monieren, sollten bedenken, daß die USA fast alle technischen Leistungen, die sie an die Weltspitze katapultierten, staatlichen Investitionen in Grundlagenforschung verdanken: Raketentechnologie, Radar, Satelliten oder das Internet. Noch sind 19 der weltbesten Universitäten in den USA zu finden. Wenn aber die Ausgaben für Forschung weiter gekürzt werden und die Aufenthaltsgenehmigungen ausländischer Elitestudenten nach ihrem Abschluß nicht verlängert werden, wird dies über kurz oder lang dazu führen, daß die nächste große wissenschaftliche Entdeckung oder Erfindung in Europa, China oder Indien statt in den USA gemacht wird.

Das unterfinanzierte Bildungssystem schadet der US-Wirtschaft ebenfalls, denn im Vergleich zu vielen anderen Ländern lassen die naturwissenschaftlich-mathematischen Grundkenntnisse junger US-Bürger zu wünschen übrig. Firmen können hochqualifizierte und hochmotivierte Mitarbeiter überall in der Welt anheuern und hochwertige Produkte im Ausland herstellen lassen. Das beste Beispiel dafür ist die Entwicklung der Solarenergie, der wichtigsten technologischen Neuerung des vergangenen Jahrzehnts. Obwohl die Technologie dafür ursprünglice in Ostasien und Europa angesiedelt, wo auch die Umstellung auf alternative Energien schon sehr viel weiter fortgeschritten ist.

Die nächste fundamentale wirtschaftliche Transformation dürfte aus der Gen- und Biotechnologie sowie den Fortschritten in der Nanotechnologie erfolgen, der Forschung auf dem Gebiet der Mikropartikel, die der postindustriellen Welt in naher Zukunft vollkommen neue Arbeitsmaterialien und -prozesse erschließen wird. Ihre Anwendungsmöglichkeiten reichen von der Medizin über die Elektrotechnik und Energiegewinnung bis hin zu neuen Erfindungen, von denen wir uns heute nicht einmal eine Vorstellung machen können.

Noch haben die USA diesen neuen globalen Wettkampf nicht verloren. Allen düsteren Voraussagen zum Trotz konnte das Land sich in der Vergangenheit immer wieder berappeln – in den 1980er Jahren etwa, als Pessimisten glaubten, daß es drauf und dran sei, von Japan überholt zu werden. Damals kam die Rettung durch die Erfindung des Internets, was alle Koordinaten verschob. Wenn es der US-Politik allerdings nicht gelingt, über die derzeitige gesellschaftliche Polarisierung, über die parteipolitischen Zankereien und kleinlichen Ressentiments hinwegzukommen – dann werden es eben andere sein, die sich die nächste große Erfindung zunutze zu machen wissen.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.

Foto: New Yorker Freiheitsstatue im Hochwasser: Bereits im Juni dieses Jahres übertraf die US-Staatsverschuldung die Marke von 13 Billionen Dollar

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