© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

„Trauer braucht einen Ort“
Reportage: Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat immer noch alle Hände voll zu tun – Polen helfen mit
Ronald Gläser

Karl Nagel lag tot im Schnee. Gefallen im Januar 1945 in der Nähe von Posen. Seine Familie erfährt nur, daß er im Wartheland getötet worden ist – aber mehr nicht. Jahrelang, jahrzehntelang Unsicherheit. Wo ist er nur? Was ist aus ihm geworden? Längst hat Clemens Nagel, der Bruder und wichtigste noch lebende Angehörige, die Hoffnung aufgegeben, daß er noch mal etwas von Karls Schicksal erfährt.

Erst die Wende ermöglicht Umbettungen im Osten

Da kommt im Jahr 2008 die Nachricht vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge: Wir haben Karl Nagel gefunden, er wird in Posen (Poznan) auf dem Soldatenfriedhof bestattet. Clemens Nagel reist mit seinem Sohn dorthin. Gemeinsam errichten die zwei ein Holzkreuz auf der Wiese, wo die Überreste von Hunderten deutschen Landsern beerdigt wurden. 63 Jahre nach Kriegsende.

Warschau. Hier hat Fred Hipp sein Büro. „Erfolgsgeschichten“ wie die von Karl Nagel sind es, die ihn mit Stolz erfüllen. Er arbeitet mit Leidenschaft für den Volksbund. Seit 1993 ist er als Umbetter in ganz Osteuropa unterwegs. Er war lange in der Tschechei, jetzt ist seine Zentrale in der polnischen Hauptstadt. Aber meistens ist er unterwegs auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs in Polen oder der Ukraine.

Er fährt mit einem VW Bulli übers Land und sucht nach Hinweisen für unbekannte Soldatengräber. Die kommen oft von Einheimischen oder Zeitzeugen. Auch heute noch. Aber Spürsinn gehört auch dazu: „Fred hat eine unglaubliche Nase“, sagt ein Kollege vom Volksbund über ihn. Tausende hat er schon aus der Erde herausgeholt und auf Soldatenfriedhöfen würdevoll beigesetzt. „Trauer braucht einen Ort“, sagt Hipp. Deswegen ist seine Arbeit so wichtig. „Die Leute wollen genau wissen, wo Vati liegt.“

Deutschland hat im Zweiten Weltkrieg 5,7 Millionen Soldaten verloren. Die meisten von ihnen beim Zusammenbruch im letzten Kriegsjahr. An eine geordnete Bestattung war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Die Sieger haben ihre Soldaten bei Kriegsende würdig bestatten können. In zahlreichen mitteldeutschen Dörfern finden sich noch heute gut erhaltene russische Soldatengräber.

Deutsche Soldaten hingegen galten plötzlich im ganzen Ostblock als Feinde. Sie wurden verscharrt und vergessen. Zudem stand der nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als westliche Organisation unter Generalverdacht. Vor 1990 war an eine Arbeit, wie sie heute geleistet wird, nicht zu denken.

Heute betreut der Volksbund über zwei Millionen Kriegstote auf 827 Friedhöfen. Er hat 142.000 Mitglieder und 319.000 Spender. Der Verein ist organisiert in Landesverbänden, die alle ein eigenes Vereinsleben entfalten. Auch mit jungen Leuten, für die der Krieg Lichtjahre entfernt ist.

Anklam. Bei strömendem Regen setzen sich fünf Jungs in der vorpommerschen Hansestadt in Bewegung, um ein heruntergekommenes Soldatengrab zu restaurieren. Sie stammen aus Neuwied am Rhein, sind Gartenbau-Lehrlinge auf Klassenfahrt zur Volksbund-Begegnungsstätte Golm auf Usedom.

Ihr Lehrer erklärt ihnen, worum es geht: Pflanzen entfernen, Boden planieren, Steine drumherum aufbauen. „Und paßt auf die Nachbargräber auf!“ Fast hätte er sich diese Ansage sparen können: Die Jungs arbeiten sehr selbständig, sorgfältig und schnell. Nach nur zehn Minuten ist das Sammelgrab kaum wiederzuerkennen. Unter einem einzelnen Stein ruhen 516 Kriegsopfer.

„Das ist schon etwas Besonderes, was wir hier machen, für die Soldaten, die damals gefallen sind“, sagt Kai (16). Sein Großvater war auch bei der Wehrmacht. Und Kevin (20) sagt: „Ich will, daß es besser aussieht als vorher.“ Sein Großvater war kein Soldat, mußte aber aus Schlesien flüchten. Am härtesten getroffen hat es den Großvater von Fabian (26), der in sowjetische Kriegsgefangenschaft gekommen ist.

In jeder deutschen Familie werden diese Geschichten aus dem Krieg erzählt und weitergegeben. Und trotzdem steht jeder aufs neue fassungslos, wenn er eine Aufschrift liest wie „Hier ruhen 516 Kriegsopfer.“ Hier 300, dort 500, da 1.000.

Und manchmal noch mehr. Die Schüler aus Neuwied waren auch in der Kriegsgräber- und Gedenkstätte Golm, in der viele Tote aus Swinemünde liegen. Amerikanische Bomber haben die Stadt am 12. März 1945 bombardiert. Sinnlose Zerstörung am Ende eines längst entschiedenen Krieges. Schätzungen gehen von bis zu 23.000 Toten aus, ein kleines Dresden an der Ostsee. Auch mit Augenzeugen dieses Luftangriffs haben die Berufsschüler gesprochen. Ein Lehrer ist baff: „So konzentriert habe ich die Jungs noch nie erlebt.“

Posen. Fred Hipp ist in die 500.000-Einwohner-Stadt zwischen Berlin und Warschau gefahren. Es geht um „eine kleinere Sache“, wie er sagt. Er will 366 deutsche Soldaten bestatten, die 1945 an verschiedenen Stellen im Wartheland, in der Umgebung von Posen also, gefallen sind.

Hinweise von Zeitzeugen und aus der Bevölkerung

Als Hipp morgens auf dem Friedhof ankommt, ist bereits alles vorbereitet. Die Minisärge stehen in Reih und Glied, auf jedem liegt ein Tannenzweig. Dorota Stanicka und Adam Bialas kümmern sich um die letzten Feinheiten. Die beiden Polen drapieren den Kranz des Volksbundes und stellen das Holzkreuz auf.

„Die Polen nehmen sich inzwischen unserer Gefallenen so an, als wären es ihre Leute“, erklärt Fred Hipp. „Das ist eine andere Generation.“ Und überhaupt: Die Polen seien sehr entgegenkommend. „Polen können nicht hassen“, hat er gelernt.

Umbetter machen nicht immer nur so positive Erfahrungen. Das Harmloseste sind Bauern, die Geld verlangen, bevor sie Fremde auf ihrem Grundstück graben lassen. Und dann finden die Suchteams manchmal auch Dinge, die sie erschaudern lassen. 1945 haben sich schreckliche Dinge abgespielt – nicht nur  mit gefangenen Soldaten. Es ist auch heute noch nicht opportun, darüber zu reden. Vor allem für eine Organisation, die auf das Wohlwollen der örtlichen Behörden angewiesen ist.

Von irgendwelchen Feindseligkeiten ist in Posen aber nichts zu spüren. Auch Artur Andrzejewski, ein polnischer Priester, erscheint zur kleinen Trauerfeier. Insgesamt finden sich 18 Personen ein, darunter Angehörige, mehrere Journalisten und ein polnisches Kamerateam. Die polnische Öffentlichkeit ist sehr interessiert an dem Thema. Zu den Teilnehmern stößt ferner Tomasz Czabanski, der Vorsitzende eines deutsch-polnischen Freundschaftsvereins mit dem Namen „Brücke“ (Pomost). Der Verein hilft dem Volksbund seit Jahren bei der Arbeit. „Wir wollen mit den Deutschen in Frieden leben, die junge Generation kennt keine Rachegefühle“, sagt Czabanski.

Den weitesten Weg hat Gerhard Jacobi zurückgelegt. Er ist aus Rheinhessen gekommen. Seine Familie stammt aus einem Dorf dreißig Kilometer von Posen entfernt. Die Mutter hat 1945 und danach Schlimmes durchgemacht und wurde 1948 von den neuen polnischen Machthabern ausgewiesen.

Als Gerhard Jacobi nach der Wende 1992 das erste Mal wieder in die alte Heimat kam, da zeigte ihm seine Mutter eine Stelle im Dorf. „Da haben die Russen die deutschen Soldaten hingebracht, die sie am 21. Januar 1945 getötet haben.“ Die Soldaten hatten sich in dem Dorf verschanzt. Als russische Panzer angriffen, versuchten sie in den nahe gelegenen Wald zu fliehen.

Einundzwanzig von ihnen wurden auf freiem Feld erschossen und später auf dem Friedhof vergraben. Kein Grab, kein Kreuz, nichts. Einfach so in der Erde verscharrt. „Die Jungs hole ich raus“, hat Jacobi zu seiner Mutter gesagt, „und wenn es zwanzig Jahre dauert.“ 18 Jahre sind es dann geworden. Im November 2010 finden die deutschen Soldaten endlich ihre letzte Ruhestätte auf dem Friedhof Milostowo in Posen. Ohne den Tip von Jacobi hätte der Volksbund die Toten vielleicht niemals gefunden.

Fred Hipp hält eine kurze Ansprache, erinnert an das Schicksal der Gefallenen. Dann übergibt er das Wort an den Geistlichen. Priester Andrzejewski sagt: „Mitten im stillen Leid richten wir unseren Blick auf Gott, denn er ist unsere einzige Hoffnung. Wir hoffen, daß die Soldaten bei Christus sind.“ Dann besprenkelt er die Särge mit Weihwasser und betet das Vaterunser und – im erzkatholischen Polen unverzichtbar – das Avemaria. Alles auf deutsch. Später entschuldigt er sich für seinen polnischen Akzent, wobei nicht ganz klar ist, ob er das ironisch gemeint hat. So oder so: Vor einigen Jahren wäre die ganze Trauerfeier noch undenkbar gewesen.

Foto: Gartenbaulehrlinge aus Neuwied restaurieren ein Soldatengrab auf dem Friedhof von Anklam (v.l.n.r.): Tim, Fabian, Kevin, Kai und Philipp / Foto rechts: Priester Artur Andrzejewski und Umbetter Fred Hipp bei der Trauerfeier in Posen

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