© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

Das Ende der Kriegerdenkmäler
Der politische Totenkult
Gernot Hüttig

Die Frage nach der Zukunft der überkommenen Kriegerdenkmäler setzt uns in Verlegenheit. Immer häufiger werden die Zeugen des politischen Totenkults beschädigt oder ganz abgeräumt. Nicht besser steht es mit dem rituellen Gebrauch der Denkmäler, der sich jährlich am Volkstrauertag vollzieht. Steht der politische Totenkult deshalb vor seinem Ende?

Die Frage kann nur beantworten, wer weiß, daß der politische Totenkult eine moderne Erscheinung und epochengebunden ist. Seine Epoche war kurz und zudem auf den abendländischen Kulturkreis beschränkt. Drei Phasen lassen sich in Deutschland unterscheiden: Die erste – von der Französischen Revolution bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts – galt, da die Freiheitskriege auch Bürgerkriege waren, einem parteiisch ausgerichteten Totenkult: Um erinnerungswürdig zu sein, mußte man auf der richtigen Seite des europäischen Bürgerkriegs gestanden haben, etwa auf seiten der Gegner Napoleons oder der Märzrevolution.

In der zweiten Phase bis zum Ersten Weltkrieg gedachte die junge Nation der Helden der Einigungskriege. Kriegervereine entstanden und kultivierten den wilhelminischen Heroismus des Kaiserreichs. Die ästhetische Qualität der Denkmäler variierte stark, weil jetzt nicht mehr der Monarch, sondern Gemeinden, Verbände und Vereine die Stifter waren, die politische Aussage aber blieb homogen.

Nach dem hohen Blutzoll des Ersten Weltkrieges kam es in der Weimarer Republik zur massenhaften Errichtung von Kriegerdenkmälern, die den politischen Totenkult noch in den letzten Weiler trugen. Sie spiegeln die verzweifelte Suche nach dem Sinn des Leidens angesichts der Niederlage und das häufig vergebliche Ringen um eine angemessene ästhetische Form. Eine letzte Phase des politischen Totenkults.

Diese Tradition brach nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Wenn nach 1945 noch Denkmäler errichtet werden, dienen sie nicht mehr dem politischen Totenkult, sondern streben eine christliche Sinnstiftung an. Ähnlich entwickeln sich die Dinge in Frankreich. Soweit anderswo noch Kriegerdenkmäler errichtet werden, atmen sie entweder ein monströses kommunistisches Pathos – gipfelnd in dem Denkmal Mutter Heimat in Wolgograd – oder – wie die amerikanischen Vietnamkriegsdenkmäler – die Pein der Ambivalenz.

Abgesehen von der ersten Phase deckt sich die Zeit des Kriegerdenkmals mit jener liberal-aufklärerischen Moderne, in der sich die industrielle Massengesellschaft formiert. Sie ist geprägt durch die bürgerliche Lebensform, deren Geistes-produkten ein „synthetisch-kombinatorischer Denkstil“ (Panajotis Kondylis) zugrunde liegt. Die Gestalt des Kriegers ist auf diese Weise in eine ihm an sich widersprechende Welt der Werte integriert. Diesem integrativen bürgerlichen Denkstil entspricht die Welt der Nationalstaaten – der Krieger wird zum Krieger der Nation. Endet dieser bürgerliche Denkstil und die daraus erwachsene Idee des Nationalstaats, so geht es auch mit dem Krieger der Nation zu Ende.

Nun gewinnt man den besten Zugang zum Charakter einer Epoche, indem man sie gegen die benachbarten abgrenzt. Der Vergleich muß an der Beteiligung des Bürgers am Krieg ansetzen. Absolute Monarchie und Demokratie markieren die äußersten Möglichkeiten der Beteiligung. Thomas Hobbes zufolge besteht das Anliegen des absolutistischen Staates darin, die im vorstaatlichen Naturzustand der Gesellschaft allgegenwärtige Todesgefahr zu bannen. Der Glaube soll aus der Politik herausgehalten werden, indem man ihn privatisiert und damit neutralisiert. Wenn alle Bürger ihre politischen, auf die Durchsetzung ihrer Glaubensvorstellungen gerichteten Rechte zugunsten des Staates aufgeben und den Krieg verstaatlichen, erwerben sie ein Anrecht auf staatlichen Schutz.

Kriegerdenkmäler sind Ausdruck eines politischen Totenkults. Er entstand in Deutschland nach der Französischen Revolution, intensivierte sich im Prozeß der Reichsgründung und kulminierte nach dem Massensterben im Ersten Weltkrieg.

Allerdings führt auch der absolutistische Staat Kriege. Diese entbehren jedoch, da in ihnen der Glaube nicht zum Tragen kommt, aller Bestialität. Der Krieg läßt sich einhegen und in den „Kabinettskrieg“ verwandeln, dem sich sogar spielerische Züge anheften. Damit wird der Weg frei für die Begrenzung des Kriegsziels und die Professionalisierung der Kriegführung. Der Soldat wird nun zum Dienstleister, der gegen Sold, der einen angemessenen Wagniszuschlag einschließt, sein Leben einsetzt. Tod und Bestattung des gefallenen Soldaten kümmern – wie bei anderen „Berufsunfällen“ auch – nur die Angehörigen.

In der Französischen Revolution wird der Krieg wieder weltanschaulich aufgeladen und radikalisiert mit der Folge, daß der Tod dem Bürger erneut im Nacken sitzt. So schwindet allmählich wieder die Unterscheidung zwischen Kombattant und Nichtkombattant, Soldat und Zivilist. Das ist folgerichtig, weil es zwischen Gut und Böse, den Kategorien des Glaubens, keine Neutralität geben kann. Gut und Böse treten nun freilich nicht mehr in theologischem Gewand auf. Sie heften sich vielmehr an säkularisierte Dogmen wie die Weltvernunft, den Liberalismus und die Demokratie, deren Träger die Nation wird.

Die Idee des Nationalstaates schließt ein, daß jeder Bürger mit seinem Leben für den Bestand der Nation einsteht. Erst diese Bereitschaft konstituiert den Staatsbürger. Reinhart Koselleck spricht in diesem Zusammenhang von einer Säkularisierung des christlichen Totenkults: „Was ehedem der kirchlichen Messe anvertraut war, das jenseitige Heil der Seele zu erbeten, wird zur diesseitigen Aufgabe des politischen Totenkults: im gewaltsamen Tod jedes einzelnen liegt bereits seine Rechtfertigung, solange er das politische Heil des ganzen Volkes für die Zukunft verbürgen hilft. Und deshalb muß an ihn erinnert werden.“

Die zunehmende Brutalisierung des Krieges bringt es mit sich, daß der tote Soldat vermißt, verschollen oder gar nicht mehr zu identifizieren ist. Deshalb muß vielerorts des unbekannten Soldaten, des „soldat obscur“ gedacht werden. Sein Denkmal – etwa der Arc de Triomphe und die Schinkelsche Wache – wird zur zentralen Stätte des politischen Totenkults.

Die Zeit des Kriegerdenkmals ist also jene der allgemeinen Wehrpflicht und der zunehmenden Aushöhlung des Unterschieds zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Der Krieg verliert dabei den Duell-Charakter, indem alle Ressourcen des Staates mobilisiert werden und deshalb zunehmend die technische und wirtschaftliche Potenz der kriegführenden Mächte über den Ausgang des Kriegs entscheidet. Im Ersten Weltkrieg erstmals gerät der Krieger ins Hintertreffen, der Krieg wird zur Materialschlacht, der Rüstungsarbeiter zum Semikombattanten.

Im Zweiten Weltkrieg erfaßt der Krieg dann mit voller Wucht auch die Nichtkombattanten. Und er geht, da jetzt auch die Grenze zwischen Krieg und Frieden verschwimmt, nach dem offiziellen Schweigen der Waffen weiter. Im Nachkrieg nach dem 8. Mai 1945 starben weitere Millionen Zivilisten und Kriegsgefangene. Erstmals auch bezweckt der Krieg unverhüllt die Auslöschung der Kultur des Gegners, etwa indem mit der Vernichtung der alten Städte das historische Gedächtnis des Feindes ausgelöscht werden soll.

Die Bedrohung des Feindes mittels der Kernwaffe ist der nächste Schritt auf dem Weg der Unterstellung der Politik unter den Glauben und seine modernen Ableitungen. Das bürgerliche Sowohl-Als-auch von gehegtem Krieg und Weltanschauungskrieg ist zu Ende. Waren die verfolgten Werte bislang noch an die Nation und insoweit an einen konkreten Raum gebunden, so werden sie nun ortlos, nämlich universalistisch: die ganze Welt soll sich der Vorstellung des Hegemons von „democracy“ und „freedom“ unterwerfen.

Der Zweite Weltkrieg stellt einen Bruch dar: Der Glaube kehrt in die Politik zurück und die Staatenkriege verschwinden. Mit den Nationalstaaten fallen die Kriegerdenkmäler aus der Zeit. Die Subjekte der Geschichte werden aus dem Gedächtnis getilgt.

Damit wird die Feindschaft grenzenlos, absolut. Dem entsprechen die neuen Waffen gemäß dem Hegelwort: „Die Waffen sind das Wesen der Kämpfer selbst.“ Der Krieg nimmt, was sich schon im Zweiten Weltkrieg angekündigt hatte, die Form der Schädlingsbekämpfung an und zielt unverhüllt auf die totale Vernichtung des Feindes mit Weib und Kind. Selbst die im Schatten der Kernwaffe geführten begrenzten Kriege, die meist gar nicht mehr erklärt werden und in Gestalt der „humanitären Intervention“ daherkommen, atmen den totalitären Geist des Glaubenskriegs.

Die vor dem letzten Irak-Krieg verhängten „Wirtschaftssanktionen“ kosteten nach Schätzung der Unesco mehr als eine Million Zivilisten das Leben – was niemanden anrührte. Am Ende kann sich der Waffeneinsatz ganz erübrigen. So wurde der Ost-West-Konflikt mit Hilfe technologischer Entwicklungen entschieden. Nicht Soldaten, sondern Techniker entscheiden heute den Krieg. Soweit Soldaten noch benötigt werden, geht es um nebensächliche Anliegen, die am besten „Sicherheitsdienste“ erledigen.

Daß gleichzeitig mit dem Söldner irreguläre Gestalten – der Partisan und der Terrorist – auf den Plan treten, weist auf ein Interregnum hin, die Geburt einer neuen Großraumordnung. Ist die Zeit der Nationalstaaten vorbei, fallen die Kriegerdenkmäler aus der Zeit.

Das Berliner Ehrenmal ist beispielhaft. Es erinnert an Tote, die nicht mehr den eigenen Staat verteidigten. Es zieht auch keinen Schlußstrich unter ein abgeschlossenes Ereignis, sondern gilt auch laufenden und sogar zukünftigen Einsätzen. Krieg in Permanenz – das ist der Horizont des Söldnertums. Wir erkennen das Betriebsdenkmal eines Staates, der sich als Kriegsunternehmer betätigt und Soldaten vermietet.

Ein Denkmal lebt durch die rituelle Wiederholung seiner Botschaft. Erübrigt sich diese, wird es umgewidmet, gestürzt oder vergessen (Reinhart Koselleck). Die rituelle Wiederholung des politischen Totenkults klingt derzeit aus. Die Träger der Erinnerung sterben aus, und ihre Erben verstehen sich nicht mehr als Adressaten der Botschaft. Wenn wir etwa an einem Heidelberger Denkmalsobelisken aus dem Jahre 1896 die Inschrift lesen „Den Gefallenen zum ehrenden Andenken. Den Lebenden zur Erinnerung. Den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung“, so wird diese Ermutigung heute nur noch als Kuriosum durchgehen können.

Die Umdeutung von Erinnerungsstätten zugunsten des unterschiedslosen Leidens hat längst begonnen. Sie läßt sich an den Denkmälern festmachen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und nicht mehr zwischen handelndem und nur leidendem Opfer unterscheiden. Die Subjekte der Geschichte werden aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt. Daß nur noch eines gewissen Teils der Opfer gedacht wird, ist symptomatisch für ein Land, das selbst zum politischen Objekt wurde. Sinn und Wort finden nicht mehr zueinander.

Im übrigen folgt nicht nur die Erinnerung an die handelnden Opfer politischen Gesetzen. Wer sich als Opfer auszugeben vermag, verfügt nämlich über eine verdeckte und deshalb besonders wirksame Waffe: Opfer- und Machtstatus werden identisch. Es gibt dann erinnerungswürdige und minderwertige Opfer, es entsteht eine Hierarchie der Toten. Der neue politische Totenkult heftet sich deshalb an andere Stätten als die der Kriegerdenkmäler. Diese werden daher dem Bildersturm nur dann entgehen, wenn sie der Vergessenheit anheimfallen und sich in Hieroglyphen einer wunderlichen Epoche verwandeln, in der das Leben nicht als des Menschen höchstes Gut galt.

 

Gernot Hüttig, Jahrgang 1943, war bis 2008 Amtsgerichtsdirektor in Bad Arolsen. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Spengler, Schmitt und die deutsche Mission („Im Spiegel der Unwiderruflichkeit“, JF 19/10).

Foto: Kriegerdenkmal um 1900, Hofgarten Düsseldorf: Das von Karl Hilgers geschaffene Monument spiegelt die heroische Erinnerungskultur im Kaiserreich wider

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