© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Die Angst der grünen Kraftmeier vor dem Absturz
Bündnis 90/Die Grünen: Angesichts weiter steigender Umfragewerte warnt die Parteiführung vor der Bundesdelegiertenkonferenz vor einer Ernüchterung
Hans Christians

Die Grünen vermitteln derzeit den Eindruck, als könnten sie vor Kraft kaum laufen. Neben den Meinungsumfragen sind auch die Mitgliederzahlen in Rekordhöhen geschnellt. Doch die bunte Welt der Grünen, die an diesem Wochenende in Freiburg ihre Bundesdelegiertenversammlung abhalten, zeigt hinter den Kulissen auch graue Mißtöne und so ganz trauen auch die Strategen in der Parteizentrale dem Frieden nicht. 

Parteichef Cem Özdemir rief seine Formation angesichts der neuester Umfragewerte, die bis zu 23 Prozent vorhersagen, zur Bescheidenheit auf:  „Dieser Höhenflug kann so flüchtig sein wie hochprozentiger Schnaps.“ Derzeit punkte die Partei mit ihrer Glaubwürdigkeit und Geschlossenheit. Sie dürfe nicht wieder in Phasen zurückfallen, als der Parteivorstand öffentlich vor allem für seine Streitereien bekannt war. Hintergrund seiner Äußerungen dürften Meinungsumfragen sein, die erstmals seit Wochen eine Stagnation für die Partei ergeben haben.  Den leichten Verlust für die Grünen begründete Forsa-Chef Manfred Güllner im Stern damit, daß der harte Kern der Grünen, der vor knapp zwei Wochen gegen den Castor demonstrierte, viele Wähler aus der Mitte verschreckt habe, die der Partei gerade zugelaufen sind. „Dadurch wird das Bild der soliden, seriösen, staatstragenden Partei unterminiert, das sich die neuen Wähler von den Grünen gemacht hatten“, sagte er. Zudem gebe es durch die Proteste wieder klarere Fronten. „Das bringt der Union ehemalige Wähler zurück, die in die Enthaltung oder auch zu den Grünen abgewandert waren.“

Auch andere Beobachter äußern die Ansicht, daß es derzeit zwar „schick“ sei, sich zu den Grünen zu bekennen, ein Großteil der neuen Sympathisanten aber kein Krawall-Image der Partei wünsche. In der Zeit heißt es dazu fragend: „Die Grünen treffen das deutsche Lebensgefühl: Man genießt den Wohlstand, man protestiert ein wenig und trennt den Müll. Reicht das, um künftig das Land zu führen?“

In der Tat konnten die Grünen ihr Wählerpotential in den vergangenen Jahren steigern. Aus den Demonstranten der achtziger Jahre sind Leistungsträger der Gesellschaft geworden. Doch der Spagat wird schwieriger. Das Bürgertum – auch wenn es heute ökologisch und liberal denkt – schreckt traditionell vor allzu schrillen Tönen zurück. Gleichzeitig muß sich die Partei in gewissen Punkten radikal gerieren, um die Jugend nicht zu verlieren. Dabei kommt ihr zugute, daß sie derzeit nur in wenigen Ländern in der Regierungsverantwortung steht.

In Baden-Württemberg wird dieses Dilemma  am deutlichsten. Derzeit sind die Grünen dort Wortführer gegen den Bahnhofsbau Stuttgart 21. Das hat ihnen  ungeahnte Sympathie-Werte beschert und die Aussicht, bei der Landtagswahl im März vor der SPD zu landen. Ein grüner Ministerpräsident wäre eine Sensation und könnte für die Partei zur Zerreißprobe werden. Nicht umsonst höhnt Amtsinhaber Stefan Mappus (CDU): „Die Grünen sind gegen Autobahnen und Automobile und mehr Bahnverkehr. Und sie sind gegen Atomkraft und für erneuerbare Energien. Aber wenn genau diese Projekte umgesetzt werden, geht ihre Klientel auf die Barrikaden und gründet Bürgerinitiativen.“

Der ehemalige SPD-Chef Kurt Beck, der in seiner rheinland-pfälzischen Heimat ums politische Überleben kämpft, kann sich eine gewisse Häme nicht verkneifen: „Da wird Unmut wie Hoffnung auf eine Partei projiziert, die im Grunde seit Jahren nichts Neues vorgetragen hat. Das sage ich ganz nüchtern, ganz ohne Häme. Vielleicht ist es deshalb ganz gut, wenn die Grünen hier oder dort wieder in Regierungsverantwortung genommen werden, dann normalisieren sich die Dinge wieder.“

Auch innerhalb der Grünen selbst macht der böse Vergleich mit der FDP die Runde. Außenminister Guido Westerwelle zählt zu den unbeliebtesten Politikern der Republik, vor gut einem Jahr flogen ihm als Oppositionsführer noch Herzen und Wählerstimmen zu. So sagt Kurt Beck ganz entspannt: „Die Entzauberung steht bereits unmittelbar bevor.“

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