© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Steingewordener Föderalismus
Marcus Schmidt

Mit gut 3.200.000 Quadratkilometern ist Indien das siebtgrößte Land der Erde. Baden-Württemberg ist etwas kleiner und bringt es auf immerhin fast 36.000 Quadratkilometer. Der Subkontinent ist also um ein vielfaches größer als das drittgrößte deutsche Bundesland.

Diese Relationen muß man sich in Erinnerung rufen, wenn man in der Berliner Tiergartenstraße unweit des Potsdamer Platzes vor der Botschaft der Republik Indien und der benachbarten Landesvertretung von Baden-Württemberg steht. Nähme man die Größe der beiden Gebäude zum Maßstab, dann entstünde der Eindruck, Baden-Württemberg sei nicht nur reicher, sondern auch etwas größer als Indien. Denn die Gesandtschaft des Südweststaates erscheint von außen durchaus repräsentativer als die benachbarte Botschaft.

Natürlich ist dieser Vergleich etwas ungerecht, denn müßte sich das Größenverhältnis zwischen den beiden Ländern tatsächlich in ihren jeweiligen Gesandtschaften in der Hauptstadt widerspiegeln, dürfte sich Baden-Württemberg kaum mehr als eine Gartenlaube leisten.

Dennoch läßt sich aus dem beschriebenen Phänomen einiges über das Selbstverständnis der deutschen Bundesländer ablesen. Die Landesvertretungen, die jedes Bundesland an der Spree unterhält, sind das steinerne Sinnbild des Föderalismus. Nicht ganz zufällig können die jeweiligen Gebäude sich alle mit den Botschaften der ausländischer Staaten messen, die sie vielfach sogar übertreffen.

Doch die Vertretungen sind nicht alleine ein Symbol für das Selbstbewußtsein der Bundesländer. Sie sind vielfach auch ein Zentrum des politischen Lebens in der Hauptstadt. Hier legen die Ministerpräsidenten und Bürgermeister ihre Strategien für den Bundesrat fest, etwa wenn es wieder einmal gilt, über alle Parteigrenzen hinweg die Interessen der Einzelstaaten gegenüber dem Bund zu verteidigen. In den Vertretungen werden zudem – gerne bei regionalen Spezialitäten und Bier oder Wein – Vortragsveranstaltungen organisiert und zu vertraulichen politischen Hintergrundgesprächen geladen. Dabei können Landesvertretungen  in Deutschland auf eine lange Tradition zurückblicken: Schon im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation waren die Einzelstaaten darauf bedacht, mit Hilfe von Gesandtschaften beim Kaiser ihre Interesen zu wahren.

Kein Wunder, daß auch heute kein Land auf eine solche Einrichtung verzichten will. Und so unterhält selbst Brandenburg, dessen Landeshauptstadt Potsdam vom Berliner Regierungsviertel bequem mit der S-Bahn zu erreichen ist, in den ehemaligen Ministergärten zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz eine eigene „Botschaft“. Nur das Land Berlin muß etwas kürzer treten. Die nach dem Umzug von Bonn an die Spree in der eigenen Stadt bezogene Vertretung mußte bald wieder aufgegeben werden. Nun residiert „die Berliner Landesvertretung beim Bund“ im Roten Rathaus. Immerhin auch ein stattlicher Bau, der die indische Botschaft alt aussehen läßt.

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