© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

»Karriere, Kind und Kaviar«
Gender Mainstreaming: Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, über die Erosion klassischer Geschlechterkategorien, die gesellschaftspolitischen Errungenschaften der DDR und „weiß-deutsche“ Fingerzeige / Die Skandal-Rede des BpB-PräsidentenThomas Krüger
(JF)

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren und ein herzliches Willkommen an alle, die sich nicht mit diesen Kategorien identifizieren können oder wollen, ich begrüße Sie im Namen der Bundeszentrale für politische Bildung zum diesjährigen Kongreß „Das flexible Geschlecht. Gender, Glück und Krisenzeiten in der globalen Ökonomie.“ (…)

Auf den ersten Blick scheinen heute viele hart erkämpfte Ziele in Sachen Geschlechtergerechtigkeit erreicht zu sein: Es regiert erstmals in der Geschichte eine Bundeskanzlerin, klassische Geschlechterkategorien erodieren mehr und mehr, immer mehr Frauen studieren und nehmen wichtige öffentliche Funktionen wahr, und neue selbstbewußte Väter verändern klassische Rollenmuster. Auf der anderen Seite blendet die offizielle Politik, wenn sie von Gleichberechtigung spricht, neue wichtige Herausforderungen unserer sich pluralisierenden und immer vielfältiger werdenden Gesellschaft allzu oft aus.

Das im Singular bezeichnete „flexible Geschlecht“ im Titel des Kongresses bezieht sich weniger auf ein bestimmtes Geschlecht oder eine bestimmte Geschlechterposition als vielmehr auf die Kategorie Geschlecht oder Gender als Strukturelement gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Kategorie Geschlecht und die daran geknüpften Ungleichheiten sind immer schon durchkreuzt von weiteren Kategorien wie Sexualität, sozialem Status, kultureller Herkunft oder Religion. Diese Einteilungen sind historisch gewachsen, geopolitisch und kulturell geprägt, und somit variabel und veränderbar. Gleichzeitig sind diese Kategorien strukturell fest in unseren Wissensarchiven verankert und das Verhältnis zwischen verschiedenen Geschlechterrollen bleibt ein historisch und strukturell asymmetrisches. (…)

Im 18. Jahrhundert etablierten sich in Europa parallel zu den humanistischen Idealen der europäischen Aufklärung sexistische und rassistische Theorien. Diese Ansätze schrieben eine zumeist biologisch begründete unterschiedliche Wertigkeit von Männern und Frauen, Europäern und Nicht-Europäern fest und rechtfertigten somit Hierarchien, die auf Dauer nie stabil sein können. Errungenschaften, die heute bereits realisiert sind, mußten hart erkämpft werden. Sie sind das Ergebnis kontroverser Auseinandersetzungen, die, das will ich ausdrücklich betonen, noch keineswegs abgeschlossen sind.  (…)

In Deutschland kämpften Feministinnen wie Clara Zetkin und Rosa Luxemburg für Gleichberechtigung und das Frauenwahlrecht. Luxemburg war es auch, die schon früh auf das Versäumnis der Frauenfrage im Kampf um soziale Gerechtigkeit verwies und vice versa. Darauf verweist das folgende Zitat: „Haben die Sozialisten sich lange um die Frauenfrage als zentrale zu drücken versucht, haben später die bürgerlichen Feministinnen die Hegemonie erlangt und wiederum die Klassenfrage ignoriert.“

Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts differenzierten sich die feministischen Kämpfe um Teilhabe und Anerkennung weiter aus. Zu den feministischen traten Bürgerrechtsbewegungen und antikoloniale Bewegungen, später Bewegungen für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender. (…)

Die Britin Virginia Woolf postulierte in ihrem feministischen Grundlagen-Essay „Ein eigenes Zimmer“ (1929) die Notwendigkeit finanzieller und räumlicher Unabhängigkeit für künstlerisches Schaffen. Und die französische Philosophin Simone de Beauvoir brachte in ihrem berühmten Diktum „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“ (1949) etablierte biologistische Rechtfertigungen für die Unterlegenheit von Frauen ins Wanken, indem sie betonte, daß Geschlechterunterschiede immer (auch) kulturell überformt und überformbar sind. Beauvoir gilt damit als eine der wichtigsten Vordenkerinnen heutiger Gender-Konzepte. (…)

In der DDR galten Geschlechterunterschiede mit dem sozialistischen Gleichheitspostulat quasi als überwunden. Die beinahe Vollbeschäftigung von Frauen und die flächendeckende staatliche Kinderbetreuung ließen in Westdeutschland heiß debattierte Themen um arbeitende Mütter und Selbstverwirklichung im Job obsolet erscheinen. Abtreibung war bis zum dritten Schwangerschaftsmonat straffrei. Doch auch in der DDR wie heute im wieder vereinten Deutschland kam den Müttern zumeist die Doppelverantwortung für Kindererziehung und Erwerbstätigkeit zu, allerdings mit dem Unterschied, daß durch die Posteriorität der Ernährer-Ehe viele Frauen kurzerhand den Männern die Tür wiesen und das Familienunternehmen komplett selbst in die Hand nahmen.

Der Westen hingegen leistete sich Hausfrauen. Dort konnte ein Ehemann seiner Frau noch bis 1973 verbieten, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, wenn er der Meinung war, sie vernachlässige darüber ihre mütterlichen und hausfraulichen Pflichten. Aus diesem Geist heraus hat der DFB übrigens auch seinen Vereinen den Frauenfußball untersagt. Erst seit 1992 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar und seit 1995 Abtreibung zwar straffrei, aber rechtswidrig und gesellschaftlich weiterhin geächtet und heiß umstritten.

Die gleichgeschlechtliche Ehe und Inter- und Transsexuellengesetzgebungen sind nach wie vor politische Baustellen. Die Menschenrechte von Personen, die der Vorstellung und den Normen der Zweigeschlechtlichkeit nicht entsprechen wollen oder können werden tagtäglich kontinuierlich verletzt. In Transgender und Intersexuellenbewegungen verstärkt sich der Widerstand gegen diese Diskriminierungen, und die Debatten finden langsam Eingang in feministische und Gender-Diskurse.

Einige entscheidende Ziele sind heute erreicht. Selbstbewußte Alpha-Mädchen und F-Klasse-Frauen erobern die Feuilletons und wichtige Jobs und zeigen oft ehrgeiziger als ihre männlichen Kollegen, wie Karriere, Kind und Kaviar zu managen sind. Gleichzeitig erstarkt ein populärwissenschaftlicher Diskurs, der erneut die biologischen, oft neurowissenschaftlich begründeten Differenzen von Männern und Frauen betont und ihnen unterschiedliche gesellschaftliche Rollen zuweist. (…)

Insbesondere postkoloniale Kritikerinnen weisen seit langem darauf hin, daß ihre Erfahrungen und Realitäten mit westlichen Bewertungsmaßstäben nicht erfaßbar sind. In der heutigen Migrationsgesellschaft kumulieren diese Konflikte in Debatten um Zwangsehen, Frauenbeschneidung und Ehrenmorde. Häufig verfestigen sich diese Debatten in Diskussionen über religiöse Symbole wie die Burka oder das Kopftuch. Auffällig an diesen Debatten ist, daß sich dabei vermehrt weiße Deutsche als Fürsprecherinnen der unterdrückten muslimischen „Anderen“ stilisieren, für die sie meinen, sprechen zu können.

In letzter Zeit machen sich auffällig viele Politiker in Debatten um Migration und Integration den weiß-deutschen feministischen Fingerzeig auf Sexismus und Homophobie islamistischer Patriarchen zu eigen. Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, ob dieser Gestus nicht zuletzt auch dazu dient, eigene fortwährende Machtasymmetrien und westliche Emanzipationsdefizite unsichtbar zu machen.

In all diesen Dimensionen und Facetten beleuchtet der nunmehr dritte Kongreß der Bundeszentrale für politische Bildung Geschlechterdemokratie als fundamentale Basis von Demokratie und Gesellschaftspolitik unter dem Motto „Das flexible Geschlecht“ die aktuellen genderpolitischen Herausforderungen vor dem Hintergrund der globalen Wirtschaftskrise, von Migration und Internationalisierung. (…)

Geschlechtlich kodierte Machtasymmetrien sind eben historisch und strukturell in unserer Gesellschaft verankert. Und deshalb bleibt es eine wichtige Aufgabe einer aufklärenden politischen Bildungsarbeit, sich damit kritisch auseinanderzusetzen.

Für die politische Bildung stellt sich die große Herausforderung, mit der Vielstimmigkeit und Pluralisierung von Unterschieden und den damit verknüpften Problematiken und Defiziten umzugehen. Das bedeutet zum Teil auch, mit den Spannungen und dem Unbehagen umzugehen, die der nichtverständliche oder nicht-übersetzbare Teil von Unterschieden verursachen mag. Weil Geschlechterkategorien und -asymmetrien strukturellen Charakters sind, sind Geschlechterfragen immer auch politische Fragen, und allen politischen Fragen ist implizit, wenn nicht explizit, immer auch eine Geschlechterdimension eingeschrieben. Deshalb gilt es immer noch, das Prinzip des Gender Mainstreaming als zentrale Dimension aller gesellschaftlichen und politischen Bereiche umzusetzen.

Um für bisher ausgegrenzte Stimmen und Rechte zu kämpfen und die Strukturen zu überwinden, die sie bedingen, bedarf es neben der Anerkennung der Geschlechterdifferenzen zudem politischer Bündnisse auch quer zu und jenseits von Heteronormativität, Zweigeschlechtlichkeit und Kleinfamilie. Um Gerechtigkeit und einen Austausch auf Augenhöhe zu erreichen, kann die eigene Position, die eigene Erfahrung, der eigene Körper und die eigene Sexualität nicht länger zur Norm erklärt werden, von der alle anderen Versionen als minderwertige Abweichungen gelten, die es allenfalls zu tolerieren gilt. Schließlich sind längst alle Formen des Zusammenlebens, von sozialen Beziehungen und Identitäten weitaus vielfältiger als überkommene Binaritäten und Oppositionen beschreiben können.

Vor kurzem hat Volkmar Sigusch in unserem Periodikum Aus Politik und Zeitgeschichte in seinem Essay zum Heft „Homosexualität“ darauf hingewiesen, daß Homosexuelle immer unauffälliger werden, Fußball spielen und die „Homo-Ehe“ schließen, während sich Heterosexuelle als Bisexuelle, Fetischisten, BDSMler, Bigender, Transvestiten, Transgender, Transidentische, Transsexuelle, E-Sexuelle, Intersexuelle, Polyamoristen, Asexuelle, Objektophile und Agender verstehen.

Und weil tradierte Normvorstellungen Marginalisierungen und Minderheiten produzieren, bleibt es in einer freien und demokratischen Gesellschaft von maßgeblicher Bedeutung, eine kritische (Selbst-)Reflexion hegemonialer Positionen vorzunehmen. Dazu gehört dann in letzter Konsequenz der Verzicht auf Privilegien wie die klassische männliche Versorgerrolle oder die klassische Ernährer-Ehe, an der sich immer noch steuerliche Privilegien festmachen. Es gehört zu einer zeitgenössischen demokratischen Gesellschaft, mehr Freiheit zu wagen. Von hierarchiefreien Partnerschaften auf Augenhöhe und von einer geschlechtergerechteren Welt profitieren wir schließlich alle! (…)

 

Die Skandal-Rede des BpB-Präsidenten

Vom 28. bis 30. Oktober fand, von der Öffentlichkeit zunächst weitgehend unbeachtet, im dbb-Forum in der Berliner Friedrichstraße der Kongreß „Das flexible Geschlecht. Gender, Glück und Krisenzeiten in der globalen Ökonomie“ statt. Zum Politikum wurde die von der Bundeszentrale für politische Bildung initiierte Veranstaltung (siehe auch Seite 6), die sich um gerechte Geschlechterverhältnisse sorgte, durch die Eröffnungsrede des BpB-Präsidenten Thomas Krüger. Die JUNGE FREIHEIT dokumentiert an dieser Stelle die wichtigsten Passagen  nach dem Redemanuskript, das auf der Internetseite der Bundeszentrale veröffentlicht worden ist.

Die Bundeszentrale für politische Bildung (Adenauerallee 86, 53113 Bonn) ist unter der Telefonnummer 02 28 / 9 95 15-0 (Fax -113, E-Post: info@bpb.de) zu erreichen. Ein ausführliches Dossier zum Thema Gender Mainstreaming findet sich im Internet unter www.jungefreiheit.de

Foto: BpB-Präsident Thomas Krüger während seiner Rede: „Verzicht auf Privilegien wie die klassische Ernährer-Ehe“

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