© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Antikes Disneyland
Weltkulturerbe: Der Einsturz von Pompeji – eine Metapher für das Land
Paola Bernardi

Keine Naturkatastrophe, weder Erdbeben noch erneuter Vulkanausbruch waren dieses Mal die Ursache, sondern nur – Regen. Ein Platzregen, der zwei Tage unaufhörlich über Italien niederging und das Land  in Alarm versetzte: Flüsse quollen über, Dämme brachen und Schlammlawinen rissen alles mit sich fort. Und in jenen düsteren, verregneten Morgenstunden krachte dann auch in Pompeji das „Haus der Gladiatoren“, zweitausend Jahre nach dem Erdbeben, in sich zusammen. Nur noch Trümmer, Steine, Geröll und Schlamm sah man anstelle des antiken Gebäudes, der Schola Armaturum Juventis Pompeiani in der via dell’Àbbondanza in Pompeji. Endgültig und für immer zerstört die pompeischen roten Wände mit ihren goldenen Wandverzierungen dieses „Klubs“, wo einst die Jeunesse dorée mit ihren Waffen prunkte.

Das Gebäude war bereits einsturzgefährdet im Zweiten Weltkrieg und um es zu stabilisieren, half man 1947 mit schwerem Beton nach. Genau dies aber sei der Fehler gewesen, wie nun plötzlich all die klugen Sachverständigen im nachhinein erklären. Denn in den Betonmauern habe sich die Feuchtigkeit hineingefressen und die Fundamente zum Einsturz gebracht.

Wird Pompeji ein zweites Mal untergehen? lautet jetzt die bange Frage der internationalen Kulturwelt. Italiens Staatsoberhaupt Giorgio Napolitano sprach von einer „nationalen Schande“, was in Pompeji geschehen sei. Wer dies entschuldige oder auch erklären wolle, sei ist ein Heuchler, erklärte der selber aus Neapel stammende Staatspräsident.Kaum waren diese Worte gefallen, als ein vielstimmiger Chor einsetzte: Der Parteivorsitzende der Linken, Pierluigi Bersani, sah in dem einstürzenden Pompeji gleichsam den bevorstehenden Sturz der rechten Regierung von Berlusconi. Der frühere italienische Kultusminister Francesco Rutelli nannte ihn „eine tödliche Wunde“. Italienische Leitartikler machen Pompeji zur Metapher für das ganze Land. Und natürlich waren sich alle einig, daß der derzeitige Kulturminister Sandro Bondi zurücktreten müsse. Als wenn das die Lösung wäre.

Die Geschichte Pompejis, jenes blühenden Städtchens, das an den fruchtbaren Hängen des Vesuvs liegt und im Jahre 79 nach Christus, am 24. August, durch den Vulkanausbruch von einer glühend heißen Wolke aus Gas, Asche und Steinen verschüttet wurde, hat immer wieder die Phantasie der Menschen bewegt. Ihre Entdeckung seit Beginn der Ausgrabungen im Jahre 1748 hat wie kaum ein Ereignis die Vorstellungskraft angeregt, die Romanliteratur und die Opern- und Filmwelt bewegt.

Nachdem man 1860 eine Technik bei den Ausgrabungen entwickelt hatte, die Hohlformen aufgefundener menschlicher Körper mit Gips auszugießen und damit plastische Formen der Opfer im Angesicht des Todes zu erhalten, wurden auch diese Abgüsse (calchi) zu Literatur verarbeitet. Vor allem das ausgegrabene Bordell mit den zahlreichen erotischen Abbildungen, nun zusammen mit den „Leichnamen“, trieb fortan Scharen von Besuchern nach Pompeji.

Doch weder Ehrfurcht noch Schauder, noch stummes Entsetzen angesichts dieser unfaßbaren Tragödie verspürt man heute bei der Mehrzahl der Besucher.  Längst ist dieser Ort zu einem „antiken Disneyland“ verkommen. Anstelle der Auseinandersetzung mit antiker Hinterlassenschaft als Ursprung der eigenen europäischen Kultur stehen reine Voyeurlust und Nervenkitzel im Vordergrund.

Jährlich kommen bis zu 25.000 Besucher an diesen Ort. Die Einnahmen durch Eintrittskarten belaufen sich auf 22 Millionen Euro im Jahr. Es gibt 524 Angestellte auf dieser mit 44 Hektar größten bisher freigelegten zusammenhängenden Stadtruine der Welt.

Bei den selbsternannten Fremdenführern handelt es sich vor allem um Ortsansässige, die ihr Privileg mit Händen und Füßen verteidigen. Fremde Fachkräfte werden nicht geduldet. Die sogenannten Kustoden stehen zwar auf den Lohnlisten, arbeiten aber meistens „schwarz“ anderswo. Ihnen und ihren Familien gehören mitunter die Hotels, Pensionen oder die Parkplätze und die Souvenierläden. Sie sind die wahren Herrscher dieser antiken Stadt.

Daß über allem auch noch die Camorra – die ortsansässige Mafia – herrscht, erschwert nur die Lage. Der Besucherstrom wächst und wächst, und die Kunstgegenstände verschwinden über Nacht. „Pompeji ist eine offene tote Stadt“, so resignierend die Denkmalbehörde. Die Situation hat sich auch nicht gebessert, seit Pompeji 1997 in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen wurde.

Längst ist der gigantische archäologische Reichtum Italiens zur gewaltigen Last geworden. Das einzigartige Kulturerbe dieses Landes wird allzu oft als eine Selbstverständlichkeit empfunden, die keiner Pflege bedarf; es wird als Rendite angesehen, aus der man automatisch Gewinne abschöpft. Hierin liegt die Crux für ein Land wie Italien, das so vom Tourismus abhängig ist.

Denn Pompeji ist überall: So brachen 2001 und in diesem Jahr Teile des  Palastes „La Domus Aurea“, erbaut unter Nero, zusammen, und auch das Kolosseum bröckelt immer wieder.  www.pompeji.de

Foto: Eingestürztes Gladiatoren-Gebäude in Pompeji: Zweitausend Jahre nach dem Vulkanausbruch

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