© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Nähe im Angesicht des Todes
Liebesduelle mit Ernst Jünger: Vor fünfzig Jahren verstarb Gretha von Jeinsen
Harald Harzheim

Wer die autobiographischen „Silhouetten“ (1955) einer gewissen Gretha von Jeinsen liest, unternimmt einen Ausflug in den Berliner Untergrund, zu den „National-Bohemiens“ der 1920er Jahre. Dort lebte die Autorin mit ihrem Mann, einem Ex-Offizier des Ersten Weltkriegs. Er gilt als intellektueller Terrorist, der seinen Briefkasten mit einem Revolverschuß öffnet. Wenn die Polizei (mal wieder) das Telefon abhört, spricht Terroristenbraut Gretha demonstrativ über Bombendepots.

Als der revolutionäre Männerzirkel, von Gretha liebevoll als „Tierpark“ bezeichnet, in eisiger Nacht in ihrer Wohnung gastierte, ging irgendwann das Feuerholz aus. Kurzentschlossen verheizte das Ehepaar den nächsten Holzstuhl, und der Spaß konnte weitergehen: Radikale Debatten wechselten mit Piratenliedern aus Stevensons „Schatzinsel“. Schließlich begann ein Gast zu phantasieren, sah sich in der Hölle, während eine Taube dem Gottessohn das Auge aushackte. Alle wandten sich angeekelt ab, nur Grethas Mann richtete seinen Blick auf den Delirierenden …

Gretha von Jeinsens Berlin war eine „Alles-Ernährerin“, die selbst den Abgedrehtesten nicht untergehen ließ, sondern gerade aus schrägen Typen „ihren vitalen Rhythmus“ zog, nicht anders als heute. Spätestens jetzt will man wissen: Wer ist diese Gretha von Jeinsen? Und wer war ihr phantomhafter Ehemann? Auflösung: Ihr Mädchenname „von Jeinsen“ wandelte sich durch Heirat in „Jünger“; ihr geheimnisvoller Gatte war niemand anderes als der Schriftsteller Ernst Jünger. Den hatte sie als Neunzehnjährige in Hannover kennengelernt. Beide schilderten die erste Begegnung als theatralisches Liebe-auf-den-ersten-Blick-Szenario.

Die am 14. März 1906 bei Hannover geborene Lidy Toni Margarethe Anni von Jeinsen entstammte einer verarmten Offiziersfamilie. Im Hannoveraner Lyzeum hielt Gretha es nicht lange aus, zu sehr verabscheute sie ihre spießigen Lehrerinnen. Mit 16 schmiß das Temperamentsbündel die Schule und wandte sich dem Theater zu. Unter dem Pseudonym „Inge Sturm“ spielte sie beispielsweise in Kleists „Zerbrochenem Krug“ an der Seite von Theo Lingen. Ein Engagement im Schauspielhaus Zürich um 1925 lehnte sie jedoch ab, die Heirat mit Ernst Jünger kam dazwischen.

Grethas freche Vitalität machte sie zur passenden Lebensgefährtin ihres dynamischen Mannes, auch wenn sie geistig eigene Wege ging: So sehr Diskussionen über Kant sie langweilten, so inspirierend fand sie Tolstoi und Bachofens Matriarchatstheorien. Dessen Magna-Mater-Mythologie („große Mutter“) projiziert Gretha Jünger nicht nur auf die Stadt Berlin, die große „Alles-Ernährerin“, sondern Ernst von Salomons Blick in Jüngers frühe Wohnung (Stralauer Allee 36, Berlin) läßt gynäkokratische Urkultur auch im eigenen Heim erahnen: Kochgerüche, Gläser voller Pflanzen und Meerestiere, dazwischen alles vollgestopft mit Büchern. Wahrlich kein Heim „männlicher“ Rationalität, sondern bachofenscher Matriarchats-Symbolik: Pflanzen, Wasser und Nebel. Da Gretha stets für Wahl und Gestaltung der gemeinsamen Wohnungen zuständig war, ist Zufall fast ausgeschlossen.

Wenn sie ihren Mann als „Gebieter“ titulierte, war das keineswegs ironiefrei. Sie besaß zweifellos den stärkeren Realitätssinn, was ihr den Spitznamen „Perpetua“ (die Beständige) einbrachte. Als Ernst Jünger in den dreißiger Jahren große Reisen unternahm, führte Gretha den Haushalt. Entfremdung schlich sich ein, sie fühlte sich vernachlässigt. Die Ex-Schauspielerin griff zur Rolle der Magna Mater, konstruierte eine Ersatz-Beziehung zu ihrem Sohn Ernst („Ernstel“), der sich vom Vater gleichsam vernachlässigt fühlte. Diese Bindung, von Gretha in der Tagebuch- und Briefsammlung „Die Palette“ (1949) geschildert, endete 1944 mit Ernstels frühem Kriegstod. Ihr zweiter Sohn Alexander, aufgrund extremer Sensibilität „das Vögelchen“ genannt, verfiel 1993 in Depression und beging Selbstmord.

Daß Ernst Jünger, während des Zweiten Weltkrieges in Paris stationiert, dort Liebschaften pflegte, vergrößerte den Graben zwischen beiden. In der „Palette“ klagt Gretha: „Die Liebe gleicht dem Spiel; es gibt nur den Gewinn oder den Verlust. Derjenige Partner, der sich am stärksten gebunden betrachtet, ist der Verlierer; er ist in diesem Duell nicht auf Deckung bedacht und zeigt offen die Stellen seiner Verwundbarkeit.“

Erst am Ende von Gretha Jüngers Leben fand die Entfremdung ihre Aufhebung. 1958 erkrankte sie an Krebs. Zwei Jahre zog sich ihr Leiden hin, Ernst Jünger verfiel darüber in Depression. Ein „Rückzug“, der Gretha maßlos enttäuschte. Erst am Sterbebett stand Jünger ihr bei, gab ihr endlich die lang erhoffte seelische Nähe. Am 20. November 1960 war die Schlacht verloren.

Später zählte Ernst Jünger diese Phase zu den intensivsten seines Lebens. Er gehörte zu jenem Menschentyp, den Truffaut in dem Film „La chambre verte“ (Das grüne Zimmer, 1978) porträtierte: Erst im Angesicht des Todes gelingt ihm wirkliche Nähe. Carl Schmitt, ein heimlicher Gretha-Verehrer, kündigte im Beileidsschreiben sein Verstummen an. Der Briefwechsel zwischen ihr und Carl Schmitt erschien vor drei Jahren als Buchedition (JF 43/07).

Gretha Jüngers autobiographische Literatur ist keineswegs nur historisch oder mit Blick auf ihren Mann lesenswert. Mag sie dessen stilistische Brillanz nicht erreicht haben, die fundamentale Bedingung zum Schreiben – das maximale Auskosten und Durchleiden der eigenen Lebenszeit – erfüllte sie allemal.

Foto: Gretha Jünger (1906-1960): Sie fühlte sich von ihrem Mann vernachlässigt

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