© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Eine Burg für die Ritter der neuen Zeit
Militärgeschichte: Vor hundert Jahren weihte die Marine ihre Offiziersschule in Flensburg-Mürwik ein
Matthias Bäkermann

Das „rote Schloß am Meer“ dürfte eine der Institutionen der Bundeswehr sein, deren Strahlkraft nicht allein in ihrer Bedeutung als Offiziersschule oder der kolossalen Architektur begründet ist, sondern auch auf der langen Tradition beruht, jener „aus fünf Marinen“. Den Deutschland-begeisterten König von Tonga, Taufa’ahau Tupou IV., bewog es sogar Ende der achtziger Jahre, 19.000 Kilometer von der anderen Seite der Erde im „Remter“ der Marineschule in Flensburg-Mürwik Platz zu nehmen, um die besondere Aura der Stätte auf sich wirken zu lassen. Man reagierte prompt im politische Prominenz durchaus gewohnten Stammhaus der deutschen Marine, um für den vier Zentner schweren Bismarck-Enthusiasten aus Polynesien ein passendes Sitzmöbel bei einem lokalen Tischler anfertigen zu lassen.

Auch mehr als zwanzig Jahre später würde der 2006 mit großem Pomp und Wagner-Musik in die Gruft eingefahrene Erbmonarch den gewünschten Zauber nicht missen müssen, konnten die Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU), Rudolf Scharping oder Peter Struck (beide SPD) der „Burg“, wie sie im Jargon der Marineoffiziere heißt, mit ihren Entrümpelungsfeldzügen gegen Vitrinen und Traditionszimmer wegen deren unerwünschter Bezüge zu „vordemokratischen“ Armeen wenig anhaben. Der große Fundus an maritimen Erinnerungsstücken findet bereits seit 1976 im Wehrgeschichtlichen Ausbildungszentrum seinen Platz.

Als die am 21. November 1910 nach Plänen von Baurat Adalbert Kelm gebaute Marineakademie der Kaiserlichen Marine ihrer Bestimmung übergeben wurde, offenbarte das Gemäuer klar seinen historischen Bezug. Nichts Geringeres als das Haupthaus des Deutschen Ordens in Westpreußen, die Marienburg, sah Auftraggeber Kaiser Wilhelm II. als standesgemäße Vorlage für den Ausbildungsort der Offiziere „seiner“ Marine an. Norddeutsche Backsteingotik mit ersten Einflüssen der Renaissance, die Ausmaße und die erhöhte Lage über einem Gewässer, alles überragt von einem mächtigen Turm – Kelm zitiert ebenso brav und gekonnt sein Vorbild an der Nogat.

Hier, wo noch fünf Jahre zuvor Seine Majestät höchst persönlich in einer Ortsbegehung den rechten Standpunkt erkundet hatte, sollten von nun an die Ritter der neuen Zeit im Remter ihre Speisen empfangen. Alles in hansisch-ordensritterlicher Tradition, allerdings in Verbindung mit dem neuen Geist des technischen Zeitalters dampfbetriebener Stahlschiffe.

Anders als im mittelalterlichen Orden oder auch in den noch ihren Königen und Herzögen unterstellten Armeen des Reiches, sollte nun aber Geblüt oder Stand nicht mehr die Eignung zum Offizier ausmachen oder beeinflussen. „Der Seeoffizier muß viel lernen. Er soll ein gebildeter Mann im allgemeinen Sinn sein“, also mögliche Karriere durch eigenes Tun, darauf fußte neben technischem Verständnis und modernen Führungspraktiken des Kaisers moderner Edelmann. Mit Wilhelm II. als Chef der Marine, dazu getragen von nationaler Zustimmung vor allem des Bürgertums, durfte sich das hier ausgebildete Offizierskorps auf dem besten Wege zur Elite der Nation wähnen.

Nur wenige Crews, so nennt sich in Mürwik ein Ausbildungsjahrgang, sollten hier bis zum Ende der „schimmernden Wehr“ ihre Prägung erfahren. Außer in einem direkten Kräftemessen mit Britanniens Home Fleet im Skagerrak 1916 – taktisch ein Sieg, strategisch eine Niederlage – kann die Marine wenig dagegen ausrichten, daß die erste Seemacht „rules the waves“. Letztlich bleibt die Rolle der neuen Elite der Nation ruhmlos.

Als man ohne Rücksicht auf Verluste von Mann und Boot Ende Oktober 1918 zur finalen Schlacht rüstet, meutern die eigenen Matrosen – bis sich der oberste Befehlshaber der Marine gleichzeitig mit der ganzen wilhelminischen Ära durch den Gang ins holländische Exil selbst abwickelt. Es gehört zu den Anachronismen der Geschichte, daß der letzte „Sieg“, der im gesamten Deutschen Reich noch einmal die Kirchenglocken ertönen läßt, ausgerechnet in der Selbstversenkung der deutschen Hochseeflotte am 21. Juni 1919 in der britischen Internierung in Scapa Flow besteht.

Da laut dem Versailler Diktat deutsche Seestreitkräfte auf nur noch 15.000 Mann beschränkt sein mußten, waren für die Reichsmarine die Ausmaße der kaiserlichen Kaderschmiede völlig überdimensioniert. Dennoch hält man am Ausbildungsstützpunkt für Offiziere fest und beordert allerlei andere Ausbildungen bis hin zu „Lehrgängen für Leibesübungen“ an die Förde, was sogar den Bau einer noch zu historischer Bedeutung kommenden Sportstätte begründet.

Anders als noch zu „Kaisers Zeiten“, wo der Staatssekretär des Reichsmarineamtes zur ersten Garnitur des politischen Berlins zählte, spielt man nun noch nicht einmal mehr die zweite Geige. Daraus resultiert politisches Desinteresse, Ferne zum demokratischen System sowieso. Die schwarzweißrote Gösch der Reichsmarine, die nur im oberen Eckfeld die neuen Farben der Republik repräsentiert, ist sogleich die Standortbestimmung. Die an den in der Skagerrak-Schlacht gefallenen Gorch Fock angelehnte Mahnung „Nicht klagen. Wieder wagen. Seefahrt ist not“ auf der Ehrentafel in der Aula der Marineschule weist bereits in eine verheißungsvollere Zeit.

Auch wenn unter Hitler nach 1935 mit der massiven Aufrüstung der nun ganz unverhohlen „Kriegsmarine“ genannten unmodernen Minitruppe die Zeit in der unbedeutenden Nische zu Ende ist, kommt das „wieder wagen“ für die deutschen Seestreitkräfte 1939 dennoch völlig ungelegen. Wie zum 75. Bestehen der Marineschule 1985 ihr im gleichen Jahr ausscheidender, letzter kriegsgedienter Kommandeur, Flottillenadmiral Horst Wind, schreibt, waren es die auch „an der Burg“ erworbenen Komponenten, „fachliche Kompetenz also und vor allem die Fähigkeit zum Umgang mit Menschen, die es im Zweiten Weltkrieg den Offizieren der Kriegsmarine möglich machten, ihre Soldaten über mehr als fünf Jahre hinweg gegen einen materiell und technisch überlegenen Gegner, meist auf verlorenem Posten ins Feld zu führen und die Marine auch im Zusammenbruch des Jahres 1945 – im Gegensatz zu 1918 – geordnet und diszipliniert in die Kapitulation zu führen.“

Die Ironie des geschichtlichen Schicksals bestimmt auch diesmal, daß die Marine, deren Rolle bei der Evakuierung der Deutschen aus dem Osten bis heute selbst von Gegnern anerkannt bleibt, den Abschlußtusch spielen muß. Großadmiral Karl Dönitz darf nach Hitlers Selbstmord aus der Sportschule an der Marineschule Mürwik die Kapitulation organisieren, bis die letzte geschäftsführende Reichsregierung schließlich am 23. Mai 1945 von den Alliierten verhaftet wird.

Nach 1945 nehmen die Alliierten die Marineschule in Beschlag, Teile dienen als Lazarett, nach 1949 werden einige Trakte von der Pädagogischen Hochschule und der Zollschule genutzt. Als die Bundesmarine 1956 entsteht, stellt sich natürlich nicht die Frage, wo die Offiziersausbildung stattfindet. „Seitdem haben alle Offiziersanwärter und Offiziere der Bundesmarine, und ab 1990 der gesamtdeutschen Seestreitkräfte, in ihrer Ausbildung Lehrgänge an dieser Vorgesetztenschule, ihrer ‘Alma mater’, absolviert“, faßt beinahe lakonisch die Marine die mehr als fünfzigjährige Geschichte zusammen, in der deutlich mehr als die 15.000 Offiziere in den drei Marinen davor ausgebildet worden sind.

Die seit 1990 einsetzende kontinuierliche Verkleinerung der Truppe, auch der seit 1995 „Deutschen Marine“, die Ausweitung der oftmals seeunterstützten Einsätze „out of area“, die vermehrte Ausbildung weiblicher Soldaten haben natürlich auch vor der Marineschule nicht haltgemacht und prägen heute den Ausbildungsalltag wesentlich.

Vom 23. bis zum 26. November wird anläßlich des hundertsten Jubiläums ein historisches Symposium „100 Jahre MSM“ stattfinden. www.marine.de

Fotos: Marineschule in Flensburg-Mürwik, von der Wasserseite aus gesehen: Nationale Zustimmung, Sportschule: 1936/37 gebaut und als Marinedienststelle genutzt, steht sie heute unter Denkmalschutz

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