© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Die Wunde des Nihilismus verbinden
Harald Seubert erinnert an die letzten Auseinandersetzungen des konservativen Philosophen Günter Rohrmoser mit Hegel
Harald Harzheim

Die Philosophiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts läßt sich als weiträumiges Spannungsfeld von links- und rechtshegelianischer Auseinandersetzung interpretieren. Dennoch sind bahnbrechende Hegel-Deutungen eine Seltenheit. Die letzte lieferte Alexandre Kojève, der ihn als „Philosophen des Todes“ verstand. Im vergangenen Jahr brachte Harald Seubert die Hegel-Vorlesungen des 2008 verstorbenen Philosophen Günter Rohrmoser heraus. In dessen Lesart ist Hegel ein früher Entdecker der neuzeitlichen Wunde. Einer Verletzung, deren Ausmaß erst unsere postmoderne Gegenwart vollends zu spüren kriegt.

Es ist die Wunde des Nihilismus, die für Rohrmoser mit René Descartes entstand. Dessen Dualismus unterteilte die Welt in Seele und ausgedehnte Materie. Das provozierte einen radikalen Riß zwischen dem Subjekt mit seinem Erleben und der meßbaren Welt der Objekte. So bleibt alles Erfahrene „subjektiv“, aber alles „objektiv“ Erfaßbare erfüllt uns nicht. Selbst wenn sämtliche Probleme der Wissenschaft gelöst wären, ist die Frage nach dem Sinn meiner Existenz nicht einmal berührt, erkannte Wittgenstein. Auch in der unüberbrückbaren Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zeigt sich das Dilemma: Da gibt es keine methodische Brücke zwischen Biologie oder Physik einerseits und Geschichtswissenschaft oder Psychologie anderseits.

Beide agieren auf unterschiedlichen Ebenen. Wobei die Neuzeit gerade das objektiv Meßbare vergötzt, nicht zuletzt, so Rohrmoser, weil deren „Erfolg“ den Werten der bürgerlichen Aufklärung entgegenkam. Schließlich waren es Aufklärer wie Kant, die alles Metaphysische, die Rede von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit endgültig aus dem Wissenschaftsdiskurs verbannten. Begründung: Metaphysik überschreite alle Erkenntniskategorien. Man könne ans Absolute glauben, es eventuell mystisch erfahren, aber niemals in objektive Begriffe fassen.

Genau an dieser Stelle tritt Hegel auf den Plan. Dessen Systemdenken sei keineswegs ein „romantischer“ Rückschritt gewesen, sondern der verzweifelte Versuch, die ausgesperrte Metaphysik auf den wissenschaftlichen Begriff zu bringen. Hegels Philosophie ist für Rohrmoser der tollkühne Versuch, die cartesische Spaltung zwischen Körper und Geist, zwischen Erscheinungswelt und „Ding an sich“ aufzuheben, den Glauben des Christentums in Wissenschaft zu transformieren. Wenn die moderne Welt nur wissenschaftliche Wahrheit anerkennt, dann müsse das Absolute in diese Form gebracht werden, anderweits drohe der Nihilismus, das „unglückliche Bewußtsein“. Hegel fand das Absolute in der Geschichte. Der Geist erlange nur Selbstbewußtsein, wenn er geschichtlich ist, sich den Prozeß seiner Selbstwerdung in Erd- und Menschheitsgeschichte vergegenwärtigt. Die verschiedenen Erkenntnisstadien, angefangen vom einfachen sinnlichen Bewußtsein, sind notwendige Stufen auf dem Weg der Selbsterkenntnis. Auch die Entfremdung des Menschen im cartesischen Wissenschaftsdenken ist als Durchgangsphase des Weltgeistes vonnöten. Jedoch führe der Geschichtsprozeß zu einer „Aufhebung“, einer Versöhnung beider Sphären in der Selbstreflexion des absoluten Geistes.

Natürlich weiß Rohrmoser, daß Hegels Metaphysik unrestaurierbar bleibt. Dafür sei die „Hegelferne“ der Gegenwart einfach zu groß, kollidiere dessen Denken zu sehr mit den Dogmen der Gegenwart. So im Anspruch, die Welt im „Ganzen“ zu erfassen, während die Postmoderne höchstens fragmentarisches „Patchwork“-Denken (J.F. Lyotard) erlaube. Vor allem müßte eine Metaphysik der Vernunft davon ausgehen, daß auch die Wirklichkeit selbst vernünftig sei. So sehr Rohrmoser letzteres verteidigt, so unannehmbar erscheint sie der modernen Welterfahrung.

Aber, so fragt der Autor, ist die Sorge vor dem Nihilismus selbst überhaupt noch aktuell? Oder wird das Verschwinden der Metaphysik schon gar nicht mehr als Verlust empfunden? Haben wir, als „Volk ohne Metaphysik“, uns in seelischer Wüste gemütlich eingerichtet? Immerhin haben wir eine Kultur der Ablenkung und Kompensation errichtet. Der Sloterdijk-Schüler Cai Werntgen beispielsweise verstieg sich zur Behauptung, daß der „Endverbraucher“ mit seiner „Verwöhnungskultur“ den Nihilismus auf seine Weise überwunden habe. (Allerdings beweist die zunehmende Zahl seelischer Erkrankungen, daß die „Endverbraucher“ da irgendwas falsch machen ...) Wenn aber das Gegenmittel der Hegel-Aktualisierung unmöglich bleibt, wozu darüber schreiben? So machen Rohrmosers Vorlesungen der 1980er und 1990er Jahre, trotz hervorragender Exegese, ein wenig ratlos.

Daß der Autor sich in einer Sackgasse befand, zeigt sein letzter, kurz vor dem Tode vollendeter Aufsatz über „Dostojewski. Die Antwort der christlichen Kultur auf den Nihilismus“. Mit großer Symphatie schildert Rohrmoser den Ausspruch des russischen Dichters, den Glauben an Christus notfalls auch gegen die Naturwissenschaften zu setzen: „Das von den Natur- und Evolutionswissenschaften entworfene Bild des Universums sei reiner Wahnsinn, wenn es nicht den schönsten und vollkommenen Menschen gegeben hätte: Christus.“ Aber damit ist man „nur“ im Glauben. Gerade diese Gegenüberstellung von Glaube und „Natur- und Evolutionswissenschaften“ bestätigt den cartesischen Riß, den Hegel überwinden wollte. So können die Endverbraucher fröhlich weitershoppen und die Träger des „unglücklichen Bewußtseins“ endlos auf Erlösung warten.

Harald Seubert (Hrsg.): Günter Rohrmoser. Glaube und Vernunft am Ausgang der Moderne. Hegel und die Philosophie des Christentums. Eos-Verlag, Sankt Ottilien 2009, gebunden, 543 Seiten, 48 Euro

Foto: Astronom Nicolaus Copernicus, Konversation mit Gott, Gemälde von Jan Matejko (1838–1893)

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