© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

Fehlender Kitt
Irland: Die Furcht vor dem Ende der Souveränität
Daniel Körtel

Zu Beginn trat der rebellische Protest der Iren gegen ihre Regierung nur vereinzelt in Erscheinung und blieb, abgesehen von einigen Eier- würfen, überwiegend friedlich. Wo am Sonntag vor dem Dubliner Regierungsgebäude noch ein einsamer Demonstrant sich dem Dienstwagen einer Ministerin in den Weg stellte, stand am Montag bereits eine größere Gruppe Protestierender vor dem Tor und schwenkte irische Fahnen und Plakate der linksnationalistischen Sinn Féin.

Wohnsektor als sichtbares Zeichen des Niedergangs

Das irische Volk scheint noch nicht in Stimmung zu sein, um in Massen auf die Straße zu gehen, zu offensichtlich ist die dramatische Ausweglosigkeit leerer Kassen und maroder Banken. Schneller als erwartet haben Premierminister Brian Cowen und sein Finanzminister Brian Lenihan am Sonntagabend die Öffentlichkeit über den formellen Antrag auf Finanzhilfe informiert.

Nach Ansicht irischer Medien und Oppositionspolitiker ist damit das Ende der irischen Souveränität gekommen, weil sich das Land dann den Anweisungen und Vorgaben des Internationalen Währungsfonds IWF und der EU unterwerfen müßte. Das ist keine Bagatelle für ein Volk, das in einem zähen Ringen erst vor 88 Jahren die jahrhundertelange britische Oberherrschaft abschütteln konnte. Schon das wiederholte Ablehnen von EU-Verträgen zeigte, daß man hier sehr auf die eigene Unabhängigkeit bedacht ist und allergisch auf ungebetene Ratschläge aus dem Ausland reagiert. Cowen hat diese Ansicht eines externen Diktats jedoch entschieden zurückgewiesen.

Im Zentrum vieler Befürchtungen über die Konsequenzen des Rettungsschirms steht die Körperschaftssteuer, die mit ihrem niedrigen Satz von 12,5 Prozent den wichtigsten Vorteil des irischen Wirtschaftsstandorts ausmacht und deren Erhalt den Iren in den Verhandlungen über den Vertrag von Lissabon ausdrücklich versichert wurde. Gleichwohl hat am vergangenen Wochenende Frankreichs Staatspräsident Sarkozy hierzu den Druck erhöht.

Eines der sichtbaren Zeichen des irischen Niedergangs sind die 2.800 Wohnsiedlungen, die infolge des zusammengebrochenen Immobiliensektors nicht fertiggestellt werden konnten. Da das Geld für ihren Unterhalt fehlt, steht den Häusern dieser „Geister-Siedlungen“ der Verkauf zum Spottpreis oder das Ende durch den Abrißbagger bevor. Die Iren werden sich auf eine längere Durststrecke einrichten müssen. Ihnen drohen drastische Einschnitte im öffentlichen Dienst und den Sozialleistungen, Steuererhöhungen und die Reduzierung des Mindestlohns.

Über die Ökonomie hinaus stellt die Krise auch die Wertefrage in den Vordergrund. Nach dem erodierenden Ansehensverlust der politischen Klasse und dem Ausfall der katholischen Kirche nach eklatanten Mißbrauchsskandalen fehlt der Kitt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der durch die vorliegende Periode des Wohlstandsverlustes trägt. Die Irish Times beklagte „einen schockierenden Mangel an Solidarität in unserem eigenen Land, eine Art der Anbetung des materiellen Erfolgs, der meinte, wer auch immer nicht mithalten könne, sei einfach ein Verlierer. Jetzt sind wir alle Verlierer“.

Der Absturz der irischen Wirtschaft zieht nun auch die Regierung mit in den Abgrund. Die Ereignisse auf der grünen Insel entfalten in diesen Tagen eine Dynamik, die die Jamaika-Koalition aus der national-konservativen Fianna Fail und den Grünen in Auflösung versetzt. Cowen hat mit seiner wiederholten Versicherung, das Land brauche keine Finanzhilfen, nicht nur seine Glaubwürdigkeit bei den Wählern restlos verspielt, sondern auch bei seinem grünen Koalitionspartner. Ebenso haben zwei unabhängige Abgeordnete der Regierung ihre Unterstützung entzogen.

 Der grüne Parteivorsitzende und Umweltminister John Gormley erklärte den Sinneswandel seiner Partei damit, daß die vergangenen Wochen traumatisch für die irischen Wähler gewesen wären: „Das Volk fühlt sich hintergangen und verraten.“ Der Premier beugte sich und kündigte Neuwahlen an, die voraussichtlich für Januar terminiert werden, nach der Verabschiedung des drakonischen Haushaltsplans für das kommende Jahr.Doch statt ihre Hoffnungen auf eine Änderung der politischen Lage oder einen möglichen Aufschwung zu richten, setzen nicht wenige Iren wieder auf die für das Land klassische Alternative der Migration. Selbst die TEEU, eine der größten irischen Gewerkschaften, gab inzwischen ihren Mitgliedern in einem Seminar einschlägige Hilfestellungen für Auswanderungswillige. Ihnen bereits vorausgegangen ist die Flucht Tausender osteuropäischer Arbeitsimmigranten zurück in ihre Heimatländer, als vor zwei Jahren der Absturz einsetzte.

Foto: Sinn Féin-Protest vor dem Regierungsgebäude in Dublin: Die Iren fühlen sich hintergangen und verraten 

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