© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Angst vor Hunger und Drangsalierung
Nordkorea: Mehr und mehr Menschen glückt die Flucht aus dem „Paradies“
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Die Zahlen scheinen gering, lassen aber aufhorchen. Mitte November teilten südkoreanische Regierungsstellen mit, daß die Anzahl der Geflohenen aus der „Demokratischen Volksrepublik Korea“, die sich seit dem Waffenstillstand von 1953 bis Seoul durchschlagen konnten, die Zahl 20.000 überschritten habe. Für Außenstehende mag sie recht minimal erscheinen, doch angesichts der massiven Absperrungen des Regimes gegenüber Südkorea muß die Zahl als überaus bedeutsam gewertet werden.

Da auch eine Flucht über das Gelbe Meer und ebenso über das Japanische Meer nahezu unmöglich geworden ist, versuchen alle Fliehenden seit einiger Zeit über die Grenzflüsse Tumen und Amok die Volksrepublik China zu erreichen. Die hier lebende koreanische Minderheit hilft oft weiter, ja es gibt regelrechte Fluchthelfer-Gruppierungen. Peking selbst liefert alle Geflohenen wieder an Pjöngjang aus – wo die Flüchtlinge hohe Strafen erwarten.

Die genaue Zahl dieser Fluchtversuche ist natürlich unbekannt. Vor Jahren wurde geschätzt, daß rund 70 Prozent erfolglos geblieben sind. In jüngster Zeit scheinen diese mit nicht ganz so vielen Schwierigkeiten verbunden zu sein. Ein Grund: Die nordkoreanischen, aber ebenfalls die chinesischen Grenzwachen sind bestechlich.

Viele Flüchtlinge versuchen dann, illegal durch die Volksrepublik zu gelangen, um eine westliche Botschaft in Hongkong, in Thailand oder sogar in der Mongolei zu erreichen, die sie der nächsten südkoreanischen Vertretung übergeben. Die Zahl derjenigen, die sich gegenwärtig in China versteckt halten, wird von Kennern auf mehrere zehntausend Personen geschätzt.

Zuverlässiger Maßstab des Umfangs dieser Fluchtversuche ist die Anzahl derjenigen, die schließlich Südkorea erreichen. Belief sich diese vor 1994 auf unter zehn, so überschritt die Gesamtzahl sechs Jahre später die Tausender-Grenze. Ende des Jahres 2006 betrug diese über 9.000, von denen die Hälfte allein in den vergangenen Jahren geflohen waren. Seitdem gelangen jährlich über 2.000 Nordkoreaner nach Seoul; 2009 waren es sogar knapp 3.000.

In den bevorstehenden Monaten dürfte die Zahl sogar erheblich ansteigen, zumal nach einem aktuellen Bericht der Welternährungsorganisation FHO angesichts einer erneut schlechten Ernte sage und schreibe fünf Millionen Nordkoreaner vom Hunger bedroht sind.

Aufschlußreich erscheint, daß sich die Anzahl junger Nordkoreaner unter den Flüchtlingen innerhalb der letzten fünf Jahre verdoppelt hat: Selbst sie, die stets nur die ewigen Siegesparolen und Versprechungen ihres Führers Kim Jong-il hörten, scheinen dem Regime keinerlei Vertrauen mehr entgegenzubringen. Der Anteil der geflüchteten Frauen, die früher nur knapp die Hälfte ausmachten, beträgt heute rund 70 Prozent. Ursache hierfür ist wahrscheinlich, daß sie weniger als die Männer überwacht werden.

Die Flüchtlinge, die zuletzt in Seoul eintrafen, waren dann auch eine 41jährige Frau mit ihren beiden Söhnen. Wie sie über China den Westen erreichten, wurde verständlicherweise nicht bekanntgegeben.

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