© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Dokumentation: Mein jüdisches Viertel, meine deutsche Angst
Hitlers langer Atem
Andreas Krause Landt

Ich halte mich für einen ziemlich normalen Enkel der Generation der Kriegsteilnehmer. Ich bin nach Mallorca gefahren, um in Ruhe zu schreiben. Der Verleger hat mich um einen Text über Schuld und Schuldgefühl im Hinblick auf die deutsche Lage gebeten, und ich hatte vorgeschlagen, auf die Pointe hinzuschreiben, daß wir Hitler früher oder später würden betrauern und beerdigen müssen. Das sei im Grunde das einzige, was mich nach meinem fast zwanzigjährigen Nachdenken über dieses Thema noch interessiere, sagte ich zu ihm, und außerdem hätte ich kürzlich in der Mittagssonne geträumt, daß ich um ein offenes Grab herumlief, um niemand Geringeren als den uniformierten Adolf Hitler einzufangen und ihm endlich zu seiner letzten Ruhe zu verhelfen. Immerfort sei ich um das leere Grab herum Hitler hinterhergelaufen. Es war eine Chaplin-Szene. Als ich aufwachte, mußte ich lachen, und vorsichtshalber entschuldige ich mich an dieser Stelle für den irreführenden Eindruck fehlenden Ernstes.

Der Verleger begrüßte das vorgeschlagene Thema lebhaft. Daraufhin ruderte ich erst einmal zurück. Ich bin doch nicht blöd. Auf gar keinen Fall könnte man in Deutschland, wie mir plötzlich wieder einmal klar wurde, einen Essay beispielsweise mit dem Titel Vom Recht, um Hitler zu trauern veröffentlichen, ohne eine möglicherweise existenzvernichtende Rufmordkampagne zu riskieren. Und das bei meiner Angst. Also sprach ich mich gleich wieder gegen den Titel aus, den ich selbst vorgeschlagen hatte und unter dem ich mein Stück auch gern geschrieben hätte. Was nun? Meine alten Texte über die Anmaßungen und Gefahren des deutschen Schuldstolzes las ich ein wenig lustlos. Sie wirkten auf mich plötzlich wie Beamtenprosa.

Lieber würde ich über meine Angst schreiben, dachte ich, als über eine Schuld, von der ich gar nicht so genau weiß, was ich mit ihr zu tun habe. Ich weiß, daß ich Angst habe, jedenfalls fühlt es sich an, als ob es so wäre. Aber ob ich Schuld habe, das weiß ich nicht. Ich fühle sie nicht, oder besser gesagt, im Unterschied zur Angst verfolgt mein Schuldgefühl mich nicht. Ich kenne durchaus vielerlei alltägliche Schuldgefühle, aber eine Schuld an „Auschwitz“ und an allen weiteren Verbrechen, die damit gemeint sind, fühle ich eigentlich nicht. Was also ist es, das mich und meine Gefühle an Auschwitz bindet, wenn es nicht oder nur zu einem unwesentlichen Teil das Gefühl meiner Schuld ist?

Was bindet die anderen an Auschwitz? Es gibt zunächst den geschichtspolitischen mainstream, der von merkwürdigen Vereinfachungen zehrt wie der des Spiegel, auf dessen Titelseite es dieser Tage heißt: „Allein gegen Hitler – Wie Churchill die Nazis stoppte“. Es gibt Versuche seitens des „rechten Randes“, diesen geschichtspolitischen mainstream in Frage zu stellen. Es gibt andererseits Rufmordkampagnen, mit denen selbsternannte Tugendwächter vermeintliche oder wirkliche „Leugner des Holocaust“, „Verharmloser“, „Geschichtsklitterer“ oder ganz einfach „Faschisten“ überziehen. Beide Seiten ergehen sich in hin- und hergerittenen Attacken, die davon ablenken, daß so gut wie alle Deutschen, die in irgendein Verhältnis zu ihrer Geschichte treten, zuallererst auf Hitler blicken und in den Krieg hineingeraten, der bis heute gegen ihn geführt wird. Man könnte sich vorstellen, daß auch Hitler, der sich bekanntlich 1945 erschossen hat, angesichts dieser bis heute andauernden Kämpfe nicht zur Ruhe kommt, ja, daß er sich möglicherweise darüber freut, noch voll in seiner Kraft zu stehen und unser Leben zu bestimmen. Ich gehe inzwischen davon aus, daß alle, die sich unter Einsatz starker Emotionen mit Hitler beschäftigen – ganz gleich, ob sie ihn hassen oder lieben –, dazu beitragen, sein Leben zu verlängern und seine mörderische Energie weiterzugeben.

Der Gedanke, daß es im Zusammenhang von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg darum gehen könnte, daß etwas „zur Ruhe kommt“, daß Hitler „stirbt“ – dieser Gedanke ist in Deutschland schwer zu denken. Wir haben Angst, ihn zu denken, und wir haben Angst, uns dergleichen zu wünschen. Zunächst aber haben wir Angst, uns als Unmenschen zu outen, denn diese Vergangenheit, heißt es, sei so schrecklich gewesen, daß wir die Augen niemals von ihr abwenden dürften und wollten. Wir haben uns längst daran gewöhnt, ja, wir fühlen uns aufgefordert (von wem?), den normalen Lauf der Dinge, dazu gehören das Vergessen und das Verzeihen, auszusetzen und das Rad der Zeit anzuhalten. (...)

Sehen wir einmal von den geschichtspolitischen Grabenkämpfen ab und wenden wir uns einer Hauswand in Berlin-Mitte zu: Dort gibt es ein vor wenigen Jahren sehr geschmackvoll saniertes Wohnhaus aus der Kaiserzeit, dessen Hauswand auf einer Fläche von etwa zwei mal zwei Metern weder verputzt noch gestrichen wurde, um die noch vorhandenen Einschußlöcher aus den Straßenkämpfen von 1945 zu zeigen und zu erhalten. Bei dieser Dokumentation handelt es sich vermutlich um eine Absage an das in beiden Weltkriegen deutlich gewordene weltgeschichtliche Wollen Deutschlands und der Deutschen. Eine solche Absage ist nicht weiter erklärungsbedürftig. Die Tiefe unseres Sturzes hängt, wie ich weiter vermute, mit der Höhe des Adlerfluges zusammen, den die Deutschen die Welt zu lehren versuchten: „In die Hölle des Lebens kommt nur der hohe Adel der Menschheit; die anderen stehen davor und wärmen sich“, heißt es bei Friedrich Hebbel (...).

Der Leser mag selbst entscheiden, welchen Teil des Zitats er auf welche Phasen der deutschen Geschichte bezieht. Mindestens regt Hebbel mit diesen Worten bei aller Sympathie für die denkmalpflegerische Bemühung die Frage an, warum ein Volk, das eine derart karthagische Niederlage, das einen so furchtbaren Krieg erlebt hat, erstens freiwillig und zweitens so stilbewußt die Erinnerungszeichen an seine schreckliche Vergangenheit konserviert. Es läge näher, diese Zeichen zu tilgen und sich der Zukunft zuzuwenden. Ob es besser wäre, könnte man ebenfalls fragen. Und doch, warum lassen wir Hitler nicht sterben? Können wir nicht? Wollen wir nicht? Dürfen wir nicht? Könnten wir, wenn wir wollten? Dürften wir, wenn wir könnten?

Was ich weiß, ist vielleicht nicht viel mehr als dies: daß ich wie viele andere Deutsche, die von Berufs wegen denken und schreiben, von Hitler und dem Dritten Reich nicht loskomme. Eines Tages stellte ich fest, daß ich mir die Deutschen insgesamt kaum noch ohne Hitler und das Dritte Reich vorstellen konnte, und mich selbst als Deutschen auch nicht. Anders gesagt, es war mir unmöglich geworden, mir vorzustellen, daß es Auschwitz nicht gegeben hätte.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, weise ich darauf hin, daß es hier nicht um die Frage geht, ob es das Konzentrationslager Auschwitz und die dort geschehenen Verbrechen wirklich gegeben hat (woran ich nicht zweifele), sondern allein um die Frage, wie die Deutschen sich selbst fühlen würden und welche Identität sie besäßen, wenn sie sich selbst ohne jenes dunkle Kapitel zu erfassen versuchten – ohne daß es den Holocaust je gegeben hätte (Irrealis). Es schien mir eine Zeitlang evident, daß in einem solchen Augenblick eine beängstigende Leere von den Deutschen und also auch von mir selbst würde Besitz ergreifen müssen.

Diese Beobachtung steht auch am Anfang von Iris Hanikas neuem Roman Das Eigentliche, in dem über Hans Frambach, den Archivar im „Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung“, folgende Sätze gesagt werden: „Ohne das Unglück hätte er sich gar nicht definieren können. Wenn er es von sich abzog, blieb nichts von ihm übrig, nichts. Gar nichts. (Er wußte das alles, aber es nützte nichts.)“ Wir können eigentlich nicht leugnen, daß jenes Unglück lange her ist, und zugleich können wir der Tatsache nicht ausweichen, daß es uns nicht losläßt und immer noch in Atem hält, als wäre es erst gestern geschehen. Der Zweite Weltkrieg, das Dritte Reich und der Holocaust lassen uns nicht los.

Diese Epoche läßt nicht nur diejenigen nicht los, die etwa Erziehungs-, Dokumentations- oder Gedenkstättenarbeit unter der Überschrift „Holocaust“ oder „Auschwitz“ leisten, die ungezählten Journalisten, Juristen, Historiker, Psychologen, Pädagogen und Verwaltungsfachleute, sondern – und das ist ein noch interessanterer und wichtigerer Befund – diese Epoche läßt auch diejenigen nicht los, die seit langem kritisch über die vor 65 Jahren ins Werk gesetzte Aufarbeitung der Vergangenheit nachdenken, über ausuferndes „Shoah-Business“ (Norman G. Finkelstein), über „negativen Nationalismus“ (Wolfgang Schäuble) oder über „Heuchelei und moralische Weltanschauung“ (Peter Furth). Viele fragen sich, wo bei einer derartigen Dominanz von Katastrophen und Verbrechen, von Scham- und Schuldgefühlen das Positive bleibt, oder noch einfacher: wo das Eigene bleibt, das Eigene der heute Lebenden, der sogenannten Nachgeborenen.

Die Beobachtung, daß der Holocaust oder jenes Unglück eine identitätsstiftende Stellung einnehmen, ist wahrlich nicht neu. Ob es sich aber um eine genaue Beobachtung mit hinreichendem Wahrheitsgehalt handelt, das ist eine andere Frage. Es gibt da nämlich eine kleine, aber wesentliche Ungenauigkeit, die mitten hinein in die Fraglichkeit des Konzepts der „negativen Identität“, des „negativen Nationalismus“ führt, von dem die öffentlich dominierende Meinung sagt, daß es das nach Auschwitz uns Deutschen einzig und allein zustehende Identitätskonzept sei, daß also das einzige, was wir im Verhältnis zu uns selbst sagen oder tun dürften, ein Negatives sei, daß wir die Pflicht hätten, wegen Hitler uns selbst zu verneinen, zurückzunehmen, abzuschaffen.Zugleich tun wir aber auch alles, unser Leben zu erhalten, Wiedergutmachung zu leisten und nach vorne zu schauen. Wir leben in der ganz normalen Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft, aber wir weigern uns, dieser Normalität, die mindestens ein Aspekt unserer wirklichen Lage ist, zu ihrem theoretischen Recht zu verhelfen. Wir sprechen anders, als wir leben. Wir leben vermutlich die meiste Zeit moralisch unbelastet vor uns hin (wir könnten gar nicht anders), aber wir sprechen von unserer „totalen“ und „einzigartigen“ Schuld.

Jeder Verbrecher, der nicht gerade die Todesstrafe empfängt, ist mehr als sein Verbrechen: Er ißt und trinkt, schläft und wacht, hofft und liebt – er lebt, im äußersten Fall auch als Mörder. Identität, sagt Hegel, ist immer dialektische Identität aus Identität und Nichtidentität. Das heißt, außerhalb der theoretischen Abstraktion gibt es keine negative Identität. Es gibt nur eine Identität, die eine Identität aus positiver und negativer Identität ist, in der also die negative Identität ein Teil ist, aber nicht das Ganze. Etwas anderes zu behaupten, ist eine Form von Unaufrichtigkeit, wie Hans-Georg Gadamer zurückhaltend sagen würde, denn der als Hoffnung offenkundig wirksame Lebenswille wird geleugnet oder ins Unbeträchtliche abgeschoben. (...)

 

Andreas Krause Landt, Jahrgang 1963, war Mitarbeiter der Berliner Zeitung von 1997 bis 2007. Er gründete  2005 den Landt Verlag und ist heute als freier Journalist und Autor tätig. 2007 erhielt er den Gerhard-Löwenthal-Preis für Journalisten.

Andreas Krause Landt: Mein jüdisches Viertel, meine deutsche Angst,  Reihe Kaplaken, Bd. 23, Edition Antaios, Schnellroda 2010. Der geschichtspolitische Essay wird an dieser Stelle in Auszügen mit Genehmigung des Verlages abgedruckt.

Foto: Auferstehung aus dem Grab Richard Wagners: Eine Szene aus dem Hitler-Film Hans-Jürgen Syberbergs

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