© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Die Reichseinigung unter Volldampf beschleunigt
Vor 175 Jahren fuhr zwischen Nürnberg und Fürth die erste Eisenbahn in Deutschland / Wichtiger Faktor zur Erschließung des Reiches
Ekkehard Schultz

Entfernungen werden durch dieses, dem Fluge der Vögel nachstehende Verbindungs- und Transportmittel immer kleiner, Staaten und Nationen rücken dadurch einander immer näher; die Verbindungen werden immer zahlreicher und enger, und der Mensch bemächtigt sich immer mehr der Herrschaft über Raum und Zeit.“ Mit diesen Worten warben im Frühjahr 1833 zahlreiche bürgerliche Blätter für die Gründung einer Gesellschaft, deren Ziel darin bestehen sollte, eine „Eisenbahn mit Dampf-Fahrt zwischen Nürnberg und Fürth“ zu errichten.

Trotz solcher kühnen Hoffnungen ließ sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen, daß eine Umsetzung des Projektes tatsächlich innerhalb von lediglich zweieinhalb Jahren gelingen würde. Am 7. Dezember vor 175 Jahren war es soweit: Die erste Eisenbahnverbindung auf deutschem Boden wurde in Betrieb genommen. Angetrieben von der aus England importierten „Adler“-Lokomotive, die in der Firma von Robert Stephenson produziert wurde, ließ sich eine Strecke von etwas mehr als sechs Kilometern in einer Zeit von lediglich zehn Minuten bewältigen. Zwar kam der „Adler“ zunächst nur zweimal am Tag zum Einsatz, während bei den anderen Fahrten  noch der Einsatz von Pferden notwendig war. Dennoch galt das „dampfspeiende Ungetüm“, wie es von vielen Zeitgenossen tituliert wurde, bereits 1835 insbesondere dem wirtschaftsliberalen Bürgertum als „Kind eines neuen Zeitalters“, auch wenn es ebenso viele kritische Gegenstimmen gab.

Schon nach wenigen Wochen der Inbetriebnahme zeichnete sich der große wirtschaftliche Erfolg des Bahnprojektes ab. So konnten sich die privaten Aktionäre, die dafür als Kapitalgeber aufgetreten waren, über hohe Gewinne freuen. Bis in die fünfziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts erzielten sie durchschnittlich etwa 16 Prozent Dividende pro Jahr. Vor diesem Hintergrund war es nicht verwunderlich, daß nun unverzüglich auch von anderen Interessenten Anträge zur Errichtung von weiteren Stecken gestellt wurden. 

Als ein maßgeblicher Mentor für diese Entwicklungen, die in ein regelrechtes Eisenbahn- und Aktienfieber mündeten, kann der Nationalökonom Friedrich List angesehen werden. Bereits in den zwanziger Jahren hatte es der in Reutlingen geborene List verstanden, König Ludwig I. von Bayern für die neue Technik zu begeistern, die zu dieser Zeit bereits in England, Frankreich und Nordamerika erfolgreich eingesetzt wurde. Dabei stand allerdings weniger der Personenverkehr als vielmehr die Suche nach neuen und günstigeren Verkehrswegen für den Gütertransport im Mittelpunkt. Auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Bundes sah List den Nutzen daher vor allem darin, für die Regionen am Rhein einen freien Zugang zu den Weltmeeren zu ermöglichen, der ihnen ansonsten durch die Holländer versperrt war.

Generell erschwerte die Aufteilung Deutschlands in insgesamt 39 selbständige Staaten den Bau von Eisenbahnstrecken deutlich. Die unmittelbaren Auswirkungen dieser Zersplitterung konnte selbst die Gründung des Deutschen Zollvereines von 1834 nur teilweise mildern. Dies zeigte sich spätestens bei der Wahl unterschiedlicher Spurbreiten in den einzelnen deutschen Ländern. Erst im Verlauf der zunehmenden Anbindung der einzelnen Strecken über die Grenzen der Staaten hinaus, die in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann, gelang zumindest in dieser Frage eine allmähliche Angleichung.

Gleichwohl trug allein schon die Entstehung eines immer engmaschigeren Eisenbahnnetzes, welches bereits in den sechziger Jahren die vergleichbaren Strukturen der westlichen Nachbarstaaten deutlich übertraf, auch dazu bei, das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl deutlich zu fördern. Eine wesentliche Rolle spielte dabei auch, daß in Deutschland der Eisenbahnbau zumeist vom Bürgertum gegen die Vorbehalte und Widerstände der traditionellen Bürokratie durchgesetzt werden mußte. Somit wurde die Errichtung jeder neuen Strecke von den Liberalen als Akt empfunden, der sich gegen die alten, reaktionären Gewalten richtete und damit schon als solcher einen weiteren Schritt auf dem Wege zur nationalen Einheit darstellte.

Ein großes Problem für die weitere Entwicklung stellte allerdings das Fehlen einer gemeinsamen Eisenbahnverwaltung dar. Zwar wurden von Preußen aus mehrere Versuche unternommen, ein staatliches Bahnmonopol zu bilden. Doch diese Bemühungen, die unter der Leitung des liberalen Handelsministers August von der Heydt stattfanden, scheiterten in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts letztlich allesamt daran, daß die meisten Mittelstaaten, insbesondere Bayern und Sachsen, auf diese Weise eine noch stärkere Dominanz des nördlichen Nachbarn befürchteten. Selbst nach der Reichsgründung von 1871 sollte ein weiterer Versuch scheitern, sich auf eine Satzung für eine gemeinsame Reichsbahn zu einigen. Statt dessen gelang lediglich eine Einigung auf einen einheitlichen deutschen Gütertarif.

Um so bemerkenswerter ist es aus heutiger Perspektive, daß trotz dieser Hemmnisse bereits im Jahr 1870 alle wesentlichen Hauptstrecken des heutigen deutschen Eisenbahnnetzes errichtet waren. Insgesamt besaß das Netz zu diesem Zeitpunkt einen Umfang von über 19.500 Kilometern Gesamtlänge.

Erst zu Beginn der Weimarer Republik konnte der entscheidende Schritt zur Vereinigung des deutschen Eisenbahnwesens in staatlicher Hand erfolgen. In den Bestimmungen der neuen Verfassung vom 11. August 1919 wurde am 1. April 1920 der Staatsvertrag zur Gründung der Deutschen Reichseisenbahnen in Kraft gesetzt. Auf diese Weise wurden nicht nur die vormaligen Länderbahnen der Hoheit des Deutschen Reiches unterstellt. Ein praktischer Erfolg dieser Maßnahme bestand darin, daß nunmehr auch die letzten Verbindungen zwischen den Ländern geschlossen werden konnten, wie etwa zwischen Preußen und dem ehemaligen Großherzogtum Oldenburg.

Foto: Eisenbahnnetz (Linien) im Deutschen Reich 1899: Nationales Zusammengehörigkeitsgefühl gefördert

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