© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Ein gesamtdeutscher Held
Wilhelm Bleek porträtiert Friedrich Christoph Dahlmann, den Wortführer der „Göttinger Sieben“
Karlheinz Weissmann

Es gibt nur wenige Gestalten der jüngeren Geschichte, die man in allen Phasen der letzten einhundertfünfzig Jahre als vorbildlich betrachtete. Friedrich Christoph Dahlmann gehört dazu. Ob er als Vorkämpfer der Freiheit oder der nationalen Einheit, als Verteidiger Schleswig-Holsteins gegen dänische Ansprüche oder als liberaler Gegner des Obrigkeitsstaates betrachtet wurde, das Bürgertum des Kaiserreichs, die Demokratien von Weimar und Bonn, aber auch – wenngleich mit Vorbehalt – die totalitären Regime sahen in Dahlmann eine Figur, auf die man sich beziehen konnte. Das war selbstverständlich nur möglich bei Verkürzung seiner Person wie seiner Gedankenwelt, die der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angehörte. Ein Sachverhalt, auf den Wilhelm Bleek in seiner Biographie Dahlmanns ausdrücklich hinweist.

Der Band kommt rechtzeitig zum 150. Todestag Dahlmanns am 5. Dezember und stellt den ersten neueren Versuch dar, Leben und Werk des Historikers und politischen Denkers in Erinnerung zu rufen. Bleeks Ansatz ist dabei traditionell im guten Sinn des Wortes, er schildert auf breiter Basis unter Rückgriff auf den Nachlaß die Biographie von der relativ bescheidenen Herkunft Dahlmanns aus einer Familie in Wismar, wo er 1785 noch als schwedischer Untertan geboren wurde, über Schulzeit und Studium, die prägende Erfahrung der napoleonischen Besetzung Deutschlands, des Reichszerfalls, der entstehenden Nationalbewegung und des Befreiungskampfs. Der neue Patriotismus und der Triumph über Frankreich führten auch zu einem anderen Verständnis der Geschichte, und Dahlmanns Entschluß, dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Universalgeschichte an der Universität Kiel zu folgen, obwohl er vorwiegend mit klassische Philologie studiert hatte, muß auch auf diesen atmosphärischen Wandel zurückgeführt werden.

Kiel war damals eine Universität in prekärer Lage. Einerseits handelte es sich um eine deutsche Hochschule, andererseits um eine Institution, die – wegen der Personalunion zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark – unter fremder Kontrolle stand. Allerdings blieb der Bewegungsspielraum für die Professoren vergleichsweise groß und Dahlmann, den Bleek etwas modisch als „Erfinder der Unteilbarkeit Schleswig-Holsteins“ apostrophiert, konnte seine Vorlesungen und Kollegs auch dazu nutzen, einen prononciert nationalen Standpunkt zu beziehen. Dabei betont Bleek zu Recht, daß er innerhalb der „Deutschen Bewegung“ zu den Gemäßigten gehörte, weder nationalrevolutionäre noch demokratische Standpunkte vertrat, sondern die Einheit des Vaterlandes auf dem Weg der allmählichen Entwicklung und unter Schonung der Überlieferung anstrebte.

Nichtsdestoweniger zählte Dahlmann zur Opposition des Vormärz. Das wurde endgültig klar, als er von Kiel nach Göttingen wechselte und dort eine Professur für politische Wissenschaften antrat. Seine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den hannoverschen Behörden bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung war rasch vergessen, als er 1837 dem Versuch des neuen Königs Ernst August entgegentrat, die Verfassung zugunsten der monarchischen Gewalt zu beugen, wenn nicht zu brechen. Als Wortführer der „Göttinger Sieben“ erhob Dahlmann Protest – und verlor sein Amt.

Allerdings, so hebt Bleek hervor, gab es in den 1830er und erst recht in den 1840er Jahren in Deutschland längst ein liberales Netzwerk und eine interessierte Öffentlichkeit, die Sorge dafür trug, daß das Geschehen nicht ohne Resonanz, der unter Berufsverbot gestellte nicht ohne Unterstützung blieb. Nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. von Preußen erhielt Dahlmann 1842 einen Ruf an die Universität Bonn und veröffentlichte hier in rascher Folge eine umfassende Geschichte der französischen sowie eine Geschichte der englischen Revolution, die nicht nur in Fachkreisen, sondern überhaupt in der Schicht der Gebildeten Verbreitung fanden.

Dahlmann war zu diesem Zeitpunkt, wie Bleek urteilt, ein „gesamtdeutscher Held“, ein Mann, dessen Wort in der öffentlichen Debatte Gewicht hatte und der selbstverständlich herangezogen wurde, als es 1848/49 darum ging, die Paulskirchenverfassung auszuarbeiten. Dahlmann hat auf deren Gestaltung maßgeblichen Einfluß genommen, vor allem was die Schaffung eines kleindeutschen Staates unter preußischer Führung und das Erbkaisertum betraf, und im Grunde die Prinzipien umzusetzen versucht, die er schon 1835 beziehungsweise 1847 in seiner „Politik“ niedergelegt hatte. Das Scheitern der Verfassung nahm er mit Bedauern zur Kenntnis, das Scheitern der nationalen Einheit mit Trauer. Für die folgende Reaktion empfand er keine Sympathie, noch weniger aber für die Radikalisierungstendenzen der Revolution in ihrer letzten Phase. Er blieb ein Mann der „Mitte“, oder wie Bleek formuliert: „Revolution, das war Dahlmanns politiktheoretische Überzeugung, historische Lehre und zeitgeschichtliche Erfahrung, führte zu reaktionärer Gegenrevolution, wie umgekehrt absolutistische Tyrannei die Rebellion der Untertanen provozieren würde.“

Dahlmann hat noch in Gotha, Erfurt und Berlin gelehrt und zog sich für seine letzten Lebensjahre wieder nach Bonn zurück. Man wird seinem Biographen zustimmen, daß die meisten seiner Schriften heute nur noch von geistesgeschichtlichem Interesse sind. Eine Ausnahme ist aber in bezug auf „Die Politik“ zu machen, die einzige Schrift Dahlmanns, die nach dem Ersten wie dem Zweiten Weltkrieg neu aufgelegt wurde (zuletzt in einer von Bleek besorgten Edition, 1997). Für die Ausgabe von 1924 hat der Historiker Otto Westphal ein kluges Vorwort beigesteuert und kenntnisreich darauf verwiesen, welcher Reichtum der Gedanken sich bei diesem „Alt-“ oder „Historisch-Liberalen“ findet. Es führten von hier aus Wege nicht nur in eine, sondern in verschiedene Richtungen. Auch hin zu jenen Ideen, die sich als neu- oder reformkonservativ verstanden, dabei eben nicht auf Friedrich Julius Stahl oder Carl Ludwig Haller zurückgriffen, sondern auf eine Linie, die von Stein über Dahlmann hergeleitet werden konnte.

Wilhelm Bleek: Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2010, gebunden, 472 Seiten, Abbildungen, 34,95 Euro

Foto: Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860): Mann der Mitte

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