© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Hart umkämpfter Wüstensand
Krisenregion Westsahara: Zankapfel maghrebinischer Regionalmächte / EU-Länder halten sich bedeckt
Michael Wiesberg

Niemand weiß wirklich, was dort passiert ist und was derzeit geschieht“, hatte  Spaniens Außenministerin Trinidad Jiménez mit Blick auf die Krisenregion Westsahara erklärt. Bürgerkriegsähnliche Unruhen in der Hauptstadt El Aiún und die Erstürmung einer Lagers, mit dem rund 12.000 in der der Westsahara lebende Saharauis wochenlang für bessere Lebensverhältnisse und für mehr Einfluß auf den Handel mit den wenigen Reichtümern des Landes demonstrierten, durch marokkanische Sicherheitskräfte, hatten Europa im November in Alarm versetzt. Bilanz: mehr als ein Dutzend Tote und über 50 Verletzte.

Doch Genaueres weiß man eben nicht. Denn einerseits behindert Marokko die Berichterstattung auf allen Ebenen, zum anderen liegt die ehemalige spanische Kolonie nicht im Fokus westeuropäischer Interessen und gilt somit als Prototyp eines vergessenen Konfliktherdes. Dabei ist die Region seit Jahrzehnten hart umkämpft. Gegenüber stehen sich die saharauische, sozialistisch orientierte Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario, deren Ziel die Befreiung der gesamten Westsahara ist, und Marokko, das ebenfalls Anspruch auf das gesamte Gebiet  erhebt. Derzeit zerfällt die Westsahara in einen westlichen Teil, der unter Kontrolle Marokkos steht, und einen deutlich kleineren östlichen Teil, der sich seit seiner Ausrufung durch die Polisario im Jahre 1976 Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) nennt und von rund 30 Staaten anerkannt ist.

Die Wurzeln dieses Konflikts gehen bis weit in die Zeit der spanischen Kolonialherrschaft zurück. Zwar signalisierte Spanien auf Druck der Vereinten Nationen, noch 1967 eine Volksabstimmung über den Status der Westsahara durchführen lassen zu wollen. Doch es blieb bei einer Absichtserklärung, mit der Folge, daß sich 1973 die Befreiungsbewegung Polisario bildete, die die spanische Herrschaft notfalls mit Gewalt beenden wollte. Mittlerweile forderte aber auch Marokko in Gestalt seines Königs Hassan II. den Anschluß der Westsahara an Marokko, und zwar ohne Referendum. Die Vereinten Nationen kamen zu dem Ergebnis, daß statt eines Referendums der Internationale Gerichtshof (IG) unter Beachtung historisch gewachsener Bindungen sowohl mit Marokko als auch mit Mauretanien über die Zugehörigkeit des Gebietes entscheiden sollte.

Im Anschluß einigten sich Spanien, Marokko und Mauretanien auf eine Teilung der Westsahara, die im Februar 1976 von einer Versammlung saharauischer Stammesfürsten akzeptiert wurde. Marokko und Mauretanien hatten die Rechnung aber ohne die Polisario gemacht, die, seit Mitte der 1970er Jahre von Algerien unterstützt, hinhaltenden Widerstand leistete. Daraufhin räumte Mauretanien 1979 das Feld und Marokko besetzte auch diejenigen Gebiete der Westsahara, die bisher mauretanisch verwaltet waren. Gleichzeitig gelang es Marokko, die Polisario zurückzudrängen. Zur Sicherung seiner Gebietsansprüche begann das Königreich, ein Mauersystem, den sogenannten „Marokkanischen Wall“, zu errichten, der nach Gebietsgewinnen ständig erweitert worden ist. Heute soll die Länge dieses zum Teil verminten Mauersystems, an dem bis zu 100.000 marokkanische Soldaten stationiert sind, bis zu 2.700 Kilometer betragen.

Die Auseinandersetzungen mit Marokko hatten immer wieder Migrationswellen zur Folge; allein nach Algerien sollen seit 1976 rund 180.000 Saharauis geflohen sein, die mit der Polisario sympathisieren. Sie leben vor allem von Hilfsgütern der EU und der Vereinten Nationen. Erst Anfang der 1990er Jahre kam es zu einem Waffenstillstand zwischen der Polisario und Marokko, der seitens der Vereinten Nationen durch die MINURSO-Mission überwacht wird. Marokko kontrolliert derzeit zwei Drittel der Westsahara, darunter alle Städte und die begehrten Phosphatvorkommen. Ein Drittel, genauer der Osten der Westsahara, der mehr oder weniger nur aus Wüste besteht, wird von der Polisario behauptet und gilt als DARS-Staatsgebiet.

Im Zuge der Waffenstillstandsverhandlungen war zwischen Marokko und der Polisario die Abhaltung eines Referendums vereinbart worden, das über die Zukunft Westsaharas entscheiden sollte. Trotz diverser Anläufe ist es bis heute nicht dazu gekommen. Vermittlungsvorschläge der Vereinten Nationen verliefen buchstäblich im Sand. Entsprechend oft ist bisher die Friedensmission MINURSO verlängert worden; aktuell bis zum 30. April 2011.

Verständlich werden die offenbar nicht enden wollenden Auseinandersetzungen in der Westsahara, wenn man der Frage nachgeht, wer hier welche Interessen zu wahren versucht. Algerien, das die Polisario seit langer Zeit unterstützt, strebt über die Westsahara einen direkten Zugang zum Atlantik an. Marokko hingegen sieht sich als Regionalmacht des Maghrebs; in Rabats Wahrnehmung hat ein eigener Staat Westsahara keine Berechtigung. Marokko und die Westsahara werden in den Medien deshalb gerne als zusammenhängendes Staatsgebiet dargestellt. Rabat untermauert seinen Anspruch auf die gesamte Westsahara, der vom Völkerrecht nicht gedeckt ist, dem Friedensforscher Gabriel Hartmann zufolge unter anderem durch eine aktive Zuwanderungspolitik, mit der Familien aus dem Norden angesiedelt werden.

Wirtschaftlich ist die Westsahara vor allem durch die reichen Phosphatvorkommen interessant, deren Export floriert. Die Erlöse sollen dem Privatvermögen des marokkanischen Königs Mohammed VI. zugute kommen. Mit anderen Worten: Die saharauische Bevölkerung profitiert von der Ausbeutung dieser Phosphatvorkommen in keiner Weise.

Daß Marokko trotz seines fragwürdigen Vorgehens in der Westsahara bisher mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken verfahren kann, verdankt es unter anderem Frankreich, das im Sicherheitsrat immer wieder in Form seines Vetorechts zugunsten Marokkos, einem treuen Bündnispartner, interveniert.

Es sind aber nicht nur die Phosphatvorkommen, die Begehrlichkeiten geschaffen haben.  Auch der Fischreichtum an den Küsten der Westsahara ist nicht unbemerkt geblieben. So hat die Europäische Union mit Marokko immer wieder Fischereiabkommen geschlossen, die es europäischen (vor allem spanischen) Fangflotten ermöglichen, in den Gewässern der Westsahara zu fischen. Im Fischereivertrag vom Frühjahr 2006 zum Beispiel, darauf wies der Journalist Axel Goldau in einem Beitrag für die Zeitschrift Inamo hin (56/2008), ist die Rede davon, daß Fischereischiffe „in Gewässer, die unter die Souveränität oder die Zuständigkeit des Königreichs Marokko fallen“ aus der EU entsandt werden dürfen. Die hiermit eingeschlossene Westsaharazone, die damit zur Abfischung freigegeben wurde, wird damit nolens volens Marokko zugerechnet, was die EU-Kommission auf eine Parlamentarische Anfrage hin mittlerweile bestätigt hat (E-1073/08). Anspruch und Wirklichkeit klaffen eben auch in der EU auseinander, wenn wirtschaftliche Interessen im Spiel sind.

Entsprechend hat die spanische Regierung das brutale Vorgehen Marokkos zwar kritisiert, aber nicht offiziell verurteilt. Parallel dazu unterstrich Ministerpräsident José Luis Rodríguez die wichtigen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit dem südlichen Nachbarn.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle, der Marokko kurz nach den Unruhen in El Aiún einen Kurzbesuch abstattete, bemühte sich redlich, die als „exzellent“ apostrophierten Beziehungen Deutschlands und Marokkos nicht mit allzu aufdringlichen Fragen zu den Vorgängen in El Aiún zu belasten.

Foto: Nach der Zerstörung eines Saharaui-Protestlagers durch marokkanische Sicherheitskräfte: Die Bewohner der Westsahara fordern mehr Rechte und mehr Teilhabe an Ressourcen

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