© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Der Flaneur
Verliebt in Wuppertal
Josef Gottfried

Vorsicht“, warnt sie lachend, als ich schon auf der ersten Stufe meinen Halt zu verlieren drohe. Bei diesem Wetter sind die Stufen glatt – vom Luisenviertel hinauf in die Elberfelder Nordstadt. Sie nimmt meine Hand und ich spüre die graue Wolle ihrer Fäustlinge. Heute nacht fallen dicke Flocken vom Himmel und bleiben auf ihren Haaren liegen. Auf ihren hübschen Haaren.

Wer nur die Zugverbindungen zwischen Hagen und Düsseldorf kennt, kann nicht wissen, wie schön Wuppertal ist, das sich mit all seinen Treppen und Häusern irgendwo zwischen asozial und charmant entlang der begradigten Wupper zwischen die Hügel preßt.

Wir hatten lange im Café gesessen. Zwei erwachsene Singles in Lohn und Brot. Gar noch nicht so weit weg von der Schulzeit, als über jedem Beziehungsbeginn das unausgesprochene Einverständnis lag, daß diese Liebelei wohl nur ein paar Monate dauern würde.

Ihre und meine Wohnung liegen in derselben Richtung. Ich war angetrunken. Wir saßen im Raucherbereich, es gab Kölsch, und jetzt macht mir die frische Luft zu schaffen. So nehme ich, in der Linken das Geländer, in der Rechten ihren Fäustling, Stufe für Stufe und frage mich, ob wir Händchen halten oder ob sie mich stützt. Ich bin aber nicht betrunken genug, um sie das zu fragen. Verunsichert erzähle ich von Stufe zu Stufe dummes Zeug und versuche ihr den etymologischen Ursprung von „Tippen Tappen Tönchen“ herzuleiten. So nennt ein Straßenschild die Treppe, die wir nehmen.

Je höher wir kommen, desto malerischer wird die Aussicht. Ein Blick auf die Lichter des Tals, dessen ursprüngliche Schönheit mit der Industrialisierung wohl dieser Schönheit weichen mußte. Dann sind wir oben. Sie muß die Gertrudenstraße entlang, ich die Zimmerstraße. „Bis morgen“, sage ich. „Vielleicht“, sagt sie.

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