© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/10 17. Dezember 2010

„Die Lage ist dramatisch“
Nirgendwo leiden so viele Christen wie in der islamischen Welt. Die IGFM kämpft für die vergessenen Opfer.
Moritz Schwarz

Herr Flick, Christen sind weltweit die meistverfolgte Religionsgruppe. Welchen Anteil daran hat die islamische Welt?

Flick: Ungefähr zwei Drittel der rund fünfzig Staaten, in denen Christen Verfolgungssituationen, Bedrohung oder Unterdrückung erleiden, sind muslimisch. Man muß sich allerdings der Gesamtheit der islamischen Länder – 57 sind in der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) vertreten – bewußt werden. Nehmen wir etwa das bevölkerungsreichste islamische Land, Indonesien. Von den rund 237 Millionen Einwohnern dort sind offiziell 9,6 Prozent Christen, nach Kenner-Einschätzung sogar bis zu zwanzig Prozent. Dennoch kann man – abgesehen von der Scharia-Provinz Aceh – nicht von einer Verfolgungssituation wie in Saudi-Arabien sprechen. Ein aktuell drängendes Problem ist die Bedrohung und Emigration der Christen im Nahen Osten. Die Not von Christen im Islam nimmt zu. Allerdings gibt es hier keine Tausende um des Glaubens willen inhaftierte Christen wie in Nordkorea oder dem vergessenen diktatorisch regierten Eritrea, sondern andere existentielle Gefährdungen.

Spielt bei der Verfolgung von Christen auch deren Verhalten eine Rolle?

Flick: Je missionarischer Christen sich verhalten, desto mehr sind sie bedroht. Freikirchliche Gruppen und Pfingstpastoren leben gefährlicher, was jetzt im Herbst ein Todesurteil gegen den iranischen Pastor Yousef Nadarkhani zeigt, der für Dezember von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) zum sogenannten „Gefangenen des Monats“ erklärt worden ist. Es gibt aber allgemein den Trend, alle Christen konfessionsunabhängig zu bedrohen und als Vertreter des Westens und für sein Verhalten verantwortlich zu machen.

Was hat man sich unter „Verfolgung“ im Islam konkret vorzustellen?

Flick: Man muß unterscheiden zwischen Verfolgung und Diskriminierung. Diskriminierung meint, daß Christen in einem Land nur Bürger zweiter Klasse sind. Der Islam kennt eine enge Verbindung zwischen Staat und Religion und Nichtmuslime sind von daher per se marginalisiert. Der Islam ist oft Staatsreligion, die Scharia Teil der Verfassung. In den meisten islamischen Staaten gibt es Kultfreiheit für Christen. Kirchen, öffentliche Gottesdienste und ein religiöses Binnenleben sind möglich. Allerdings gibt es keine Religionsfreiheit im Sinn des Artikels 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, der das Recht auf Glaubensweitergabe und uneingeschränkten Religionswechsel vorsieht. Beim EU-Kandidaten Türkei wird seit Jahrzehnten die Ausbildung von christlichen Theologen unterbunden.

Und im Unterschied dazu bedeutet Verfolgung ...

Flick: ... daß Christen wegen des Umstandes, daß sie Christen sind, bedroht, beraubt, verhaftet, bestraft, entführt, vertrieben, verletzt oder getötet werden, wie es im Irak, Afghanistan oder Somalia der Fall ist. Es gibt Verfolgung durch den Staat und durch nichtstaatliche Gruppen. Angebliche oder tatsächliche Missionstätigkeit ist gefährlich. In der Türkei sind 2007 drei protestantische, in einem Bibelhaus tätige Christen von religiös-nationalen Eiferern umgebracht worden, 2009 zwei deutsche Bibelschülerinnen im Jemen. In manchen Ländern wie Pakistan werden Christen durch islamische Gesetze bedroht und herabgesetzt. Mehrere Christen sitzen nach dem berüchtigten Blasphemiegesetz in Todeszellen. Angebliche Beleidigung des Islam ist hier eine Handhabe privater Mißgunst gegen Nichtmuslime.

Ein besonderes Problem ist das der Konvertiten.

Flick: Insbesondere das Verlassen des Islam ist sowohl von gesellschaftlicher als auch staatlicher Verfolgung bedroht. In mehreren Staaten wie Iran, Mauretanien, Saudi-Arabien, Sudan gibt es dafür die Todesstrafe. Auf den Malediven, wo es auch keine Kirchen geben darf, verliert man bei Abfall vom Islam die Staatsangehörigkeit. In Somalia machen Al-Shabaab-Milizen in den von ihnen kontrollierten Landesteilen im Süden regelrecht tödliche Jagd auf alle Christen. Und es gibt schließlich das Problem islamischer Staaten, die zwar selbst keine Christen verfolgen, aber auch zu wenig gegen eine solche Verfolgung unternehmen.

„Islam heißt Frieden“, wird in der hiesigen Islam-Debatte doch immer wieder betont, wie kann das also sein?

Flick: Das mag so sein, aber dieses theologische Verständnis des Islam deckt sich leider nicht mit unseren Beobachtungen als internationaler Menschenrechtsorganisation. Fakt ist, dort wo der Islam herrscht, heißt Islam für die Christen systematische Diskriminierung, mitunter sogar Verfolgung oder Tod.

Der deutsche Salafisten-Prediger Pierre Vogel schilderte seine Vision eines islamisierten Europa jüngst in einem Interview mit dieser Zeitung als eine „Gesellschaft, die Andalusien in seiner besten Zeit ähneln würde: Dort lebten Juden, Christen und Muslime friedlich miteinander“.

Flick: Es stimmt zwar, daß es in manchen islamischen Ländern durchaus eine gewisse Akzeptanz und Toleranz gegenüber Christen gibt, aber auch diese entsprechen eher der Vorstellung der Christen als sogenannten Dhimmi, als Bürger zweiter Klasse.

Also entspringt zwar nicht die Verfolgung, aber die Diskriminierung der Christen dem Islam selbst – und nicht nur seinen radikalen Strömungen?

Flick: Der Islam betrachtet sich als die einzig wahre Religion und er strebt nach weltweiter Ausdehnung. Daraus ergibt sich, daß alle Nichtmuslime potentiell bedroht und als Hindernis gesehen werden. Zwar geht das Christentum ebenfalls von einem Absolutheitsanspruch aus, allerdings ist es im Gegensatz zum Islam kompatibel mit dem modernen Menschenrechtsverständnis. Im Islam dagegen sind alle Nichtmuslime im Grunde menschenrechtlich inferior. Das können Sie etwa an der Kairoer Erklärung der Menschenrechte von 1990 sehen: Damals hat die OIC in Abgrenzung von der westlichen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in der ägyptischen Hauptstadt eine eigene Menschenrechts-charta verabschiedet. In dieser werden die Menschenrechte allerdings in den Artikeln 24 und 25 in Abhängigkeit vom Islam gestellt. Das heißt, sie stehen unter dem Vorbehalt der Scharia, sie gelten also nicht für alle gleich, so müssen Frauen und Nichtmuslime Einschränkungen hinnehmen.

Zum Beispiel?

Flick: Prinzipiell wird in Artikel 1 zwar betont, daß alle Menschen „gleich an Würde, Pflichten und Verantwortung“ sind, auffällig ist aber, daß hier nicht von den gleichen Rechten wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Rede ist. Die Erklärung ergänzt, daß der „wahrhafte Glaube ... die Garantie für das Erlangen solcher Würde“ sei. Hängt somit also die Würde vom „wahrhaften Glauben“ – also dem Islam – ab? Weiter darf eine muslimische Frau im Sinne von Artikel 6 keinen nichtmuslimischen Mann heiraten. Volle Rechte gelten nach dieser Erklärung offenbar nur für männliche Muslime. Der trotz mancher Verfassungsdeklarationen praktisch vorhandene Zweit-Klasse-Status von Nichtmuslimen in islamischen Ländern ist hier ausgedrückt.

Allerdings gibt es doch auch Gegenbeispiele, Senegal und Mali etwa.

Flick: Das ist richtig, diese beiden islamischen Länder sucht man vergeblich im Weltverfolgungsindex. Der Grund ist, daß es die Christen dort nicht mit einem politischen, sondern eher mit einem mystischen Islam zu tun haben. Allerdings sind diese Beispiele nicht repräsentativ, und zudem könnte auch dort in Zukunft eine Gefahr entstehen, weil wir registrieren müssen, daß ausländische Islamisten versuchen, auch in diesen Ländern an Einfluß zu gewinnen.

Wie groß ist also die Gefahr, daß aus dem diskriminierenden der verfolgende Islam erwächst?

Flick: Das ist eine Frage, wie es künftig mit der Entwicklung des politischen Islam weitergeht. Denn er ist ja das eigentliche Problem. Erstens sieht der politische Islam die Christen, vor allem seit den Gegenmaßnahmen des Westens in Folge des 11. Septembers 2001, zunehmend als Bedrohung und kulturellen Fremdkörper. Zweitens verfolgt er die Einführung der Scharia.

Worauf zielt dieser verfolgende Islam bezüglich der Christen: Bekehrung? Vertreibung? Vernichtung?

Flick: Diesen Gruppen geht es um die Herrschaft des Islam über Nichtmuslime. Es gibt zum Beispiel Tendenzen, christenfreie Regionen zu schaffen. Flächendeckende Bekehrungsprogramme sind mir bisher nicht bekannt, in manchen Fällen Bekehrungsdrohungen – etwa bei Christen in Pakistan und im Irak. Der Erzbischof von Lahore zeigte uns bei unserem kürzlichen Besuch in Pakistan einen Brief, der ihn auffordert, endlich zum Islam überzutreten. Auch werden in Pakistan oder in Ägypten christliche Mädchen entführt, um sie dann zwangsweise zu islamisieren und zu verheiraten. In Ägypten führt der Druck auf die koptisch-christliche Minderheit zu Übertritten zum Islam. Im Nahen Osten – und wir sprechen damit immerhin über die Ursprungsregion des Christentums – ist die Zahl der Christen binnen hundert Jahren um etwa achtzig Prozent gesunken, nämlich von etwa 25 Prozent etwa um das Jahr 1900 auf etwa fünf Prozent heute. Das ist mehr als dramatisch.

Was kann jeder einzelne tun, um die bedrohten Christen in der islamischen Welt zu unterstützen?

Flick: Zum Beispiel die Arbeit der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte unterstützen, ein öffentliches Bewußtsein zu schaffen – auch in Politik und übrigens den Kirchen – für die Not dieser Christen. Hierzu gehören Pressemeldungen, Veröffentlichungen, Dokumentationen, Veranstaltungen wie zum Beispiel die am 14. Mai 2011 mit dem irakischen Erzbischof Sako in Frankfurt/Main. Die IGFM hat national und international Kontakte zu Politikern und kann die Diplomatie einschalten, und wir unterhalten in Direktkontakten Hilfsprojekte. Materielle Unterstützung erhalten etwa in Pakistan Schutzhäuser für christliche Frauen, verwaiste Kinder und wegen angeblicher Blasphemie oder Konversion untergetauchte Christen, im Nordirak ein Kloster zur Aufnahme christlicher Flüchtlinge, Lehrer für christlichen Religionsunterricht in der Südosttürkei. Viele der von mir bearbeiteten „Gefangenen des Monats“ etwa in Pakistan oder Iran, erhalten durch Regierungsappelle, Briefe und auch Gebet Erleichterung und nicht selten die Freilassung. Es gibt Unterschriftenaktionen gegen islamische Gesetze und kleine Delegationsreisen in die betroffenen Länder, gelegentlich Unterstützung in Asylverfahren. Wichtig ist, daß man diese Christen in der islamischen Diaspora und Bedrängnis nicht vergißt und versucht, ihnen irgendwie beizustehen. Man sollte bei Reisen, zum Beispiel in die Türkei und nach Ägypten, christliche Gemeinden und Gottesdienste besuchen. Informationen dazu gibt Ihnen gerne die IGFM.

 

Walter Flick, ist Referent für Religionsfreiheit der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main. Der studierte Historiker und Theologe, geboren 1951 bei Aachen, bereist regelmäßig islamische Länder, zuletzt Nigeria, Pakistan und die Türkei, um sich über die Menschenrechtslage der Christen im islamischen Raum zu informieren. Die IGFM (Logo rechts) ist eine allgemeine Menschenrechtsorganisation, die sich auch um verfolgte Christen weltweit kümmert. Regelmäßig gibt sie den Rundbrief Verfolgte Christen aktuell und zusammen mit der Nachrichtenagentur Idea das „Jahrbuch zur Christenverfolgung heute“ (Verlag für Kultur und Wissenschaft) heraus. Kontakt und Informationen: IGFM, Borsigallee 9, 60388 Frankfurt am Main, Telefon: 069 / 420 108-0  www.igfm.de

Foto: Bombenanschlag vor einer Kirche in Bagdad (2004), zwei Tote und sechzig Verletzte: „Fakt ist, wo der Islam herrscht, heißt das für die Christen systematische Diskriminierung, mitunter sogar Verfolgung oder Tod“

 

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