© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/10 17. Dezember 2010

Mißglückter erster Versuch
Polen: Die spätere Oppositionsbewegung gründete sich auf Danziger Generalstreik von 1970
André Freudenberg

Während sich das SED-Politbüro selbst feierte und von Reformeifer noch nichts zu spüren war, schien das Ende des Kommunismus anderswo faktisch schon besiegelt. Im Nachbarland Polen gewann die Opposition im Sommer 1989 die ersten freien Wahlen. Es war das Ergebnis eines langen und zähen Ringens mit der Staatsmacht. Eine Schlüsselrolle spielten dabei die Werftarbeiter, die vor genau vierzig Jahren in den Generalstreik traten und erst den Samen für die spätere Gewerkschaftsbewegung legten.

Anlaß für die damaligen Aufstände, denen schon eine Studentenrevolte zwei Jahre früher und eine Arbeiterdemonstration im Jahre 1956 vorausgingen, waren Preiserhöhungen für Lebensmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs um bis zu 38 Prozent, beschlossen durch die Regierung. Neben Danzig waren auch die Ostseestädte Gdingen und Elbing sowie Stettin Zentren des Widerstandes. Unter den Teilnehmern befand sich auch der heutige polnische Präsident Donald Tusk, der sich in seiner Dankesrede zur Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen 2009 an „Tausende von Demonstranten“ erinnerte, die „die patriotische Hymne ‘Warszawianka’ sangen, und an die Gleichzeitigkeit von „großer Angst und fröhlicher Euphorie“.

Vom Norden breitete sich die Bewegung auf das übrige Land aus. Da die Werftindustrie die wirtschaftliche Hauptader bildete, wurde die gesamte Volkswirtschaft erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Doch die Proteste beschränkten sich nicht auf die Betriebe. Die Arbeiter zogen in die Stadt, skandierten Parolen und verhielten sich nicht immer friedlich. Diese taktischen Fehler erleichterten es der Staatsmacht, brutal und gnadenlos zu reagieren. Der damalige Verteidigungsminister Wojciech Jaruzelski setzte Polizei und Militär sowie Spezialkräfte ein, ließ Panzer auffahren und Schießbefehl erteilen. Die beim Flugzeugabsturz in Smolenz 2010 umgekommene prominente Kranführerin Anna Walentynowicz rief in ihrer Verzweiflung: „Soldaten, schießt nicht auf eure Eltern. Wir kämpfen für einen gerechten Lohn, für unsere Rechte.“

Doch die Appelle nützten nichts. Bei der Niederschlagung kamen offiziellen Zahlen zufolge 45 Menschen ums Leben, darunter Arbeiter, Hausfrauen und Studenten. Tatsächlich dürften es über 90 Tote gewesen sein. Mehr als tausend Personen wurden verletzt, Tausende inhaftiert. Die Angehörigen der Erschossenen durften ihre Familienmitglieder nur nachts begraben.

Trotz aller Tragik hatten die „Revolutionäre“ aber auch einiges erreichen können. Es kam zur Rücknahme der Preiserhöhungen, Staats- und Parteichef Władysław Gomułka, der seit 1956 amtierte, wurde noch im Dezember vom Politbüro zum Rücktritt gezwungen. Ihm half jetzt auch sein kurz zuvor erzielter außenpolitischer Erfolg nichts mehr, der Abschluß des Warschauer Vertrages, mit dem er von den Preiserhöhungen ablenken wollte.

Sein Nachfolger Edward Gierek versuchte, ähnlich wie Honecker in der DDR, sich als Reformer zu präsentieren. Er versprach einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ und intensivierte die Beziehungen zum Westen. Dank westlicher Kredite füllten sich die Regale, ebenso schnellte aber auch die Verschuldung in die Höhe, denn die eigene Wirtschaft war nicht konkurrenzfähig. Mit der Folge, daß die Realeinkommen sanken und die Versorgungslage sich weiter verschlechterte.

Es dauerte nicht lange, da braute sich wieder etwas zusammen. In der zweiten Hälfte der Siebziger kam es zu Streiks in den oberschlesischen Bergwerken. Neue Oppositionsgruppen entstanden, und es bildeten sich Komitees zur Unterstützung der Arbeiter. Preiserhöhungen für Fleisch brachten dann im Sommer 1980 das Faß zum Überlaufen. Wieder spielten die Danziger Leninwerft-Arbeiter eine Schlüsselrolle, besonders die jüngeren unter ihnen. Ludwik Pradzynski, damals dort als Schweißer tätig, erinnert sich: „Schnell sammelte ich fünfzig junge Arbeiter um mich, doch die älteren warteten ab.“

Aus den Fehlern der Vergangenheit hatten die Akteure jedenfalls gelernt. Der Streik wurde als Besetzungsstreik organisiert, man verließ also das Betriebsgelände nicht. Die Organisation war diesmal hervorragend. Man bildete Streikkomitees, es gab keine Gewaltanwendung. Intellektuelle wurden einbezogen, die an die Staatsführung appellierten, die Streikkomitees als Teil der ganzen Gesellschaft zu akzeptieren. Hinzu kam noch der massive Rückhalt in der Bevölkerung. Geistlichen Beistand holten sich die Streikenden durch täglichen Besuch der Heiligen Messe. Und nicht zuletzt spielte Lech Walesa eine nicht zu unterschätzende Rolle, der seit 1967 als Elektriker an der Werft arbeitete und durch seine charismatische Ausstrahlung die Massen in seinen Bann zog.

Auch wenn die kommunistische Regierung weiter an den Schalthebeln der Macht blieb, so konnte diesmal ein Blutvergießen vermieden werden. Tadeus Fiszbach, damals Vertreter der Regierung, war sich über die eigene Schwäche im klaren: „Wir wußten, die andere Seite ist moralisch im Recht.“ So konnte den Machthabern auch eine ganze Reihe von Zugeständnissen abgerungen werden, zuvorderst die Möglichkeit der Gründung einer freien Gewerkschaft. Des weiteren wurden politische Gefangene freigelassen und ein Denkmal für die erschossenen Werftarbeiter errichtet. Auf diese und andere Punkte einigten sich beide Seiten im sogenannten „Danziger Abkommen“, welches am 31. August 1980 schließlich unterzeichnet wurde. Walesa zog ein positives Resümee: „Wir haben alles erreicht, was sich in dieser Situation erreichen ließ“, sagte er nach der Einigung.

Nur zwei Wochen darauf erfolgte die offizielle Gründung der „Solidarność“ und Lech Walesa wurde ihr Vorsitzender. 1970 war er noch als Mitglied eines als illegal angesehenen Streikkomitees verhaftet worden. Die Verhängung des Kriegsrechts 1981 hatte auch ein Verbot der Solidarność zur Folge, welches erst 1989 vollständig aufgehoben wurde. Dutzende Gewerkschaftsaktivisten wurden ermordet. Die Arbeit konnte nur aus dem Ausland und aus dem Untergrund heraus fortgesetzt werden. Stoppen ließ sich die Bewegung, die als eine der wirkungsvollsten der Nachkriegsgeschichte gilt, allerdings nicht mehr.

Die Streikwelle 1988 wiederum führte zu „Runden Tischen“ und ein Jahr später zu den ersten einigermaßen freien Wahlen, aus denen die erste nichtkommunistische Regierung hervorging. Wenige Monate später fiel die Mauer und mit ihr auch die anderen Bastionen des kommunistischen Herrschaftsbereiches in Mittel- und Osteuropa, auch dank der vielen mutigen Polen, die nicht nur für den Wohlstand, sondern auch für die Freiheit ihr Leben riskierten.

Denkmal für die Opfer des niedergeschlagenen Aufstandes von 1970 vor der Danziger Leninwerft: Das von den Werft-arbeitern selbst hergestellte Ehrenmal wurde am 16. Dezember 1980 eingeweiht und entwickelte sich zum Symbol für die pol-
nische Oppositionsbewegung Solidarność

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