© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/10 17. Dezember 2010

Preußische Gangart für den Sozialismus
Ehemalige NVA-Soldaten blicken zurück
Karlheinz Kuhlmann

Das hervorstechende Merkmal der NVA ist, so wie es mir scheint, daß sie so deutsch ist: Ordnung, Gründlichkeit und Selbstvertrauen“, so Richard L. Giles, Mitglied der britischen Militärmission in der DDR. Mit dieser Grundhaltung bewegen sich die Berichte der Zeitzeugen in dem von Guntram König herausgegebenen Band über die Nationale Volksarmee der DDR, wie nicht anders zu erwarten, mehr oder weniger in ideologisch bestimmter Erinnerung, was nur eine Feststellung und keine Abwertung sein soll. Sie ist einfach ehrliche Rückschau, verbunden mit dem Gefühl, einer guten Sache gedient und dabei persönlich am Ende verloren zu haben.

Dem Inhaltsverzeichnis folgend sind zunächst die beiden Beiträge von Oberst a. D. Wolfgang Wünsche – letzter Chefredakteur der Zeitschrift Militärwesen – zu nennen. In „Die Nationale Volksarmee – ein Novum in der deutschen Militärgeschichte“ und „Zu einigen relevanten Themen der NVA-Geschichte“ legt der Verfasser seine Sicht der Entstehung und Entwicklung der NVA zu einer vollwertigen und international anerkannten Streitmacht dar. Betont wird dabei ihr Charakter als sozialistische Armee, auf deren Führung die SED Anspruch erhob, wobei die Kommandeure auch gegenüber den Politoffizieren uneingeschränkte Befehlsgewalt hatten.

Wer einen vertiefenden Blick in die innere Struktur der NVA sowie über ihre Ausbildung, Einsatzfähigkeit und Stellung innerhalb der Gesellschaft gewinnen will, wird im zweiten Beitrag von Wünsche ausführlich informiert. Im ganzen sind die Ausführungen höchst informativ und können vor allem jedem Bundesbürger nur empfohlen werden.Zwei Beiträge widmen sich dem militärischen Zeremoniell sowie den Traditionen in Heer und Volksmarine. Hier erfährt man Interessantes gerade auch über den inneren Widerstreit in der Entwicklung dieser Formen.

Was der Oberstleutnant a. D. Martin Kunze unter dem Titel „Gedanken zu Preußenlegende und ‘rote Preußen’“ vorlegt, atmet zu sehr den Geist marxistisch-leninistischer Geschichtsdeutung. Oberst a. D. Bernd Biedermann nimmt dann unter dem Titel „Scharnhorst und die NVA“ eine treffende Würdigung des großen Militärreformers Preußens mit einem Zitat des aus West-Berlin stammenden Zeitgeschichtlers Karl-Heinz Rose vor: „Ohne Zweifel wurde das Erbe von Scharnhorst in der DDR und von der NVA besser gepflegt als in der Bundesrepublik und von der Bundeswehr.“ Biedermann stellt die aus seiner Sicht von der Geschichtswissenschaft bis heute nicht erschöpfend beantwortete Frage, was aus den etwa 50.000 Zeit- und Berufssoldaten in der Nachwendezeit wurde und welchen Bietrag sie im wiedervereinigten Deutschland geleistet haben.

Eine weithin unbekannte Besonderheit der NVA war die Einführung der sonst eher in der preußischen Militärtadition stehenden Kadettenanstalt, die zu Naumburg und allerdings nur von kurzer Dauer (1956–1960) war. Generalmajor a. D. Hans-Georg Löffler, selbst dort als Kadett eingetreten, schildert die Geschichte dieser Anstalt von ihren preußischen Anfängen im Jahr 1900 bis zu ihrem Ende als Offiziers-Lehranstalt am 2. Oktober 1990.

Der Herausgeber des Gesamtwerkes Guntram König, Kanonier in der NVA, erzählt erfrischend und erschöpfend und sozusagen von unten her seine Erfahrungen im Grundwehrdienst von November 1966 bis April 1968. Major a.D. Joachim Beau eröffnet dem Leser mit seinem Beitrag „Erschöpft, aber voller Stolz eine wichtige Aufgabe erfüllt zu haben“ einen Blick in die nichtmilitärischen Einsätze der NVA.

Ein anschauliches und gleichzeitig wehmütiges Bild seines Werdeganges zum Offizier der NVA – „Ein Jahr Schule und Sie sind Unterleutnant“ – bis zu seiner Übernahme in die Bundeswehr und letztlich zu seinem Ausscheiden und dem Übergang in eine zivile Beschäftigung bietet der „rote Preuße“ Major a. D. Hans-Joachim Bork. Aus der Arbeit eines Militärjournalisten berichtet Oberstleutnant a. D. Hans Irrgang unter der Titel: „Ein ‘roter Preuße’ bekommt von der SED nicht recht“.

Unter den Autoren des Buches ragt wohl Generalleutnant a. D. Horst Zander („Ich habe mit Hingabe und Leidenschaft meine Pflicht gegenüber der Heimat erfüllt.“) besonders hervor. Seine Karriere vom Molkereifacharbeiter bis zu seiner hohen Dienststellung in der NVA und damit ein Musterbeispiel für die „Armee des Volkes“ darstellt.

Schließlich ist noch Generalmajor a. D. Otto Gereit mit seinem Beitrag „Biographisches und Anekdotisches eines Grenzgenerals“ zu nennen. Er tut dies mit großer Aufrichtigkeit in der Form eines Briefes an den Herausgeber, den „Kanonier a. D.“ Guntram König. Nach Verwendung auf verschiedenen Dienstposten und der Beförderung zum Generalmajor 1986 wurde er als letzter Chef des Stabes im Kommando der Grenztruppen dann am 30. September 1990 entlassen.

Mit den Zeitzeugenberichten „NVA – Die roten Preußen?“ wird eine Geschichte der NVA durch authentische Stimmen bereichert. Die Lektüre dieses lesenswerten Buches sollte jedoch nicht nur „Ehemaligen“ vorbehalten bleiben, die ihre eigenen Erfahrungen „bei der Fahne“ wiederfinden möchten, sondern sie ist besonders Westdeutschen empfohlen, um zu einem ambivalenten Urteil über die mit der Wiedervereinigung „verschwundene Armee“ zu kommen.

Guntram König, (Hrsg.): NVA – Die roten Preußen? Zeitzeugenberichte. Helios Verlag, Aachen 2010, gebunden, 218 Seiten, 19,90 Euro

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