© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/10 17. Dezember 2010

Für kleine Ansprüche
Jörg Fischs Mär vom Selbstbestimmungsrecht der Völker
Oliver Busch

Die Gerda Henkel Stiftung finanziert im Münchener C. H. Beck Verlag eine „Historische Bibliothek“. Dort sind bisher ein halbes Dutzend Bände erschienen, die uns über „Die Maritime Seidenstraße“ ebenso ins Bild setzen wie über Leben und Werk Lessings. Ginge es nach den Stiftungsrichtlinien für die Reihe, so hätte es der Leser jedesmal mit „herausragenden geisteswissenschaftlichen Forschungsleistungen“ zu tun – in Form eines Buches, „das höchsten Ansprüchen genügt“.

Tatsächlich erfüllt wohl nur der Ziegelstein des Konstanzer Historikers Jürgen Osterhammel über „Die Verwandlung der Welt“ im 19. Jahrhundert (JF 38/10) solche hochgesteckten Erwartungen. Ganz gewiß nicht in dieser Liga spielt jedoch der neueste Band über das „Selbstbestimmungsrecht“. Hier wagt sich der Züricher Historiker Jörg Fisch in die Geschichte des Völkerrechts vor. Da die große internationale Karriere dieses Schlagworts im 20. Jahrhundert beginnt, muß die Darstellung eng mit der Zeitgeschichte primär zwischen 1914 und 1945 verklammert werden. Und wer dabei, wie Fisch geradezu sklavisch, an den bekannten „herrschenden“ Schablonen hängenbleibt, reduziert auch die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts auf diesen engen Rahmen.

Zwar hat Fisch weniger Mühe als seine bundesdeutschen Fachgenossen damit, das Versailler Diktat als brutales „Siegerrecht“ auch so zu nennen und daran das Versprechen des US-Präsidenten Woodrow Wilson eines gerechten, das Selbstbestimmungsrecht achtenden Friedens daran ebenso zu messen wie die vornehmlich ostmitteleuropäische Minderheitenproblematik der Zwischenkriegszeit, die daraus resultierte, daß vor allem den Deutschen in Österreich, in Südtirol, in den Sudetengebieten, in Elsaß-Lothringen, im Memelland und den zu Polen geschlagenen Teilen der preußischen Ostprovinzen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wurde. Auch die anderen „Verliererstaaten“ wie Ungarn oder Bulgarien mußten mit völlig widrigen Interpretationen zum Selbstbestimmungsrecht leben.

Doch gerade die Entwicklung der 1930er Jahre schneidet Fisch auf den denkbar kleinsten, politisch korrekten Nenner zu. Bewegungszentrum der internationalen Politik ist bei ihm natürlich Adolf Hitler, der die auf Selbstbestimmung basierende Revision der Versailler Grenzen ohne Zweifel nur geschickt als „Machtmittel benutzt“ habe auf dem imperialistischen Weg zum „Lebensraum im Osten“. Daß er in Wahrheit ein „großer Verächter des Selbstbestimmungsrechts“ gewesen ist, offenbarte dann die deutsche Besatzungspraxis vornehmlich in der Tschechei, in Polen und der Sowjetunion. Die „Angegriffenen“ späteren Sieger des Zweiten Weltkrieges hätten indes in ihren Nachkriegsplanungen Hitler leider imitiert. Für vierzehn Millionen vertriebene Ostdeutsche galt das Selbstbestimmungsrecht ohnehin nicht mehr. Da Vertreibung und ethnische Säuberung jedoch nicht „Hauptthema“ seines Buches sei, wolle er sich mit einigen Literaturhinweisen begnügen, die freilich vor allem von der Vertreibung von unliebsamen Polen durch NS-Instanzen insbesondere im Reichsgau Wartheland handeln, ausgenommen die Tirade des notorischen Geschichtsklitterers Wolfgang Benz über „Zwangsmigration von Volksdeutschen“.

Von diesem Nullniveau hangelt Fisch sich zwar in seinen Schlußkapiteln zur „selbstbestimmten“ Entkolonisierung seit 1945 etwas empor, aber mit Ausnahme des listig ausgesparten Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser bergen diese Jahrzehnte auch wenig zeithistorischen Zündstoff.

Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. C. H. Beck, München 2010, gebunden, 384 Seiten, 24,95 Euro

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