© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Moderne Theologie
Welt und Wunder
Klaus Motschmann

Alle Jahre wieder wird von allen möglichen Seiten bewegte – allerdings kaum noch bewegende – Klage über die „Säkularisierung“ und „Kommerzialisierung“ des Weihnachtsfestes und den daraus resultierenden Sinnverlust geführt. Dafür gibt es auch durchaus bedenkenswerte Gründe.

Dabei wird weitgehend übersehen, daß die christlichen Kirchen – die evangelische mehr als die katholische – einen maßgebenden Anteil an dieser Entwicklung haben. Seit gut zwei Generationen bemühen sich namhafte Theologen um die „Entmythologisierung“ des Neuen Testaments. Sie wurde 1940 durch eine kleine Schrift des Marburger evangelischen Theologen Rudolf Bultmann ausgelöst. Eine Kernaussage dieser programmatischen Schrift lautet: „Kann die christliche Verkündigung dem Menschen heute zumuten, das mythische Weltbild als wahr anzuerkennen? Das ist sinnlos und unmöglich. (...) Welterfahrung und Weltbemächtigung sind in Wissenschaft und Technik so weit entwickelt, daß kein Mensch im Ernst am neutestamentlichen Weltbild festhalten kann und festhält. (...) Er kann nicht an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“

Damit wurden zentrale Aussagen des Neuen Testaments von einem angesehenen Theologen und einer zunächst kleinen, jedoch einflußreichen Minderheit von Anhängern Bultmanns, die sich aber relativ rasch vergrößerte, zur Disposition gestellt; eben auch das Wunder der Weihnacht. Bultmann und seine Anhänger übersehen, daß der sogenannte moderne Mensch nicht unbedingt Probleme mit dem Glauben an eine Wunderwelt hat.

Der polnische Satiriker Stanislaw Lec (1909–1966) hat nach den Erfahrungen zweier Diktaturen den Unterschied von christlichem und ideologischem Welt- und Menschenverständnis prägnant beschrieben: Die „Ideologen glauben, daß sie wissen; die Christen wissen, daß sie glauben.“ Sie wissen, daß sich im Stall von Bethlehem eine Zeitenwende vollzogen hat, an die alle Welt (nicht nur die christliche) durch unseren Kalender täglich erinnert wird. Es bleibt die Hoffnung, daß sich viele Verantwortliche in unseren Schulen und Hochschulen, Parteien und Redaktionen, vor allem aber unsere Kirchenleitungen und Synoden daran auch erinnern lassen.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin

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