© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Totgesagte leben länger
Der Kampf ums Elsässerditsch: Das Elsaß zwischen Sprachlosigkeit und Neubesinnung
Martin Schmidt

Redde wi euch d‘r Schnàwel gewàchse isch“. Eine Plakat-aktion des offiziellen Straßburger Amtes für elsässische Sprache und Kultur (Olca) weist den Weg – sprecht Elsässerditsch!

Seit Gründung im Jahr 1994 hat die Insitution die Zielsetzung, die „regionale Identität des Elsaß durch die Förderung seines Kulturerbes und der sprachlichen und kulturellen Besonderheiten lebendig zu halten“. Genauer gesagt geht es darum, die elsässische Sprache vor dem Aussterben zu bewahren. Und mehr als 15 Jahre später erklärt Olca-Präsident Justin Vogel: „Die Blutung ist gestoppt.“

Diese Blutungen währen lange. Zwar gab die Neufassung des Artikels 1 der französischen Verfassung im Juli 2008 mit der Ergänzung des Passus „Die Regionalsprachen gehören zum Erbe der Nation“ Hoffnung, doch blieb sie folgenlos. Denn Paris hat die vom Europarat erarbeitete Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen 1999 zwar unterzeichnet, aber bis heute nicht ratifiziert.

Obwohl das Elsaß ab dem 6. Jahrhundert ein Land der deutschen Sprache war, ist man dort von dem durch Regionalisten verkündeten Ziel eines allgemeinverbindlichen zweisprachigen Schulunterrichts sehr weit entfernt.

Die psychologischen Folgen der mit dem Dreißigjährigen Krieg begonnenen Identitätskrise dieses Grenzlandes waren einschneidend. Sie nahm bereits in den sogenannten Reunionskriegen, die im 17. Jahrhundert zur Annexion weiter Landesteile durch Frankreich führten, Gestalt an und wurde im Zuge der Französischen Revolution nachhaltig verstärkt, als ein Großteil der Oberschicht geistig zum Franzosentum überwechselte. Die für ihren kulturellen Reichtum und ihre Schönheit gerühmte Region zwischen Rhein und Vogesen wurde erst politisch und dann schrittweise auch sprachlich-kulturell von Deutschland entfremdet. Dabei hatte es diesem unendlich viel gegeben: Im Elsaß wirkten die Minnesänger Otfried von Weißenburg und Reimar von Hagenau, hier wurde die erste deutschsprachige Bibel gedruckt, der erste deutschsprachige Roman verfaßt und hier erschien auch das erste deutsche Kinderbuch.

Bereits 1853 lehrte man an den Grundschulen nur noch auf französisch als einziger Unterrichtssprache, während das Deutsche auf 35 Minuten pro Tag zusammengestutzt wurde. Die neuerliche Zugehörigkeit zum Deutsche Reich zwischen 1871 und 1918 machte dem rigiden Pariser Zentralismus vorübergehend ein Ende und berichtigte, ohne dabei gewaltsam vorzugehen, etliche der Fehlentwicklungen. 1918 verfügten lediglich drei Prozent der angestammten Bewohner über Französischkenntnisse.

 In der Zwischenkriegszeit konnten die erneuten Französisierungsversuche insofern begrenzt werden, als eine starke regionalistisch-autonomistische Bewegung Widerstand leistete. Pierre Klein wies in seinem 2007 erschienenen Buch „Sprachen des Elsaß und warum verzichten die Elsässer auf ihre Zweisprachigkeit?“ darauf hin, daß diese Kreise 1927 das Pflichfach Deutsch in der Grundschule ab dem zweiten Halbjahr der zweiten Klasse mit drei Wochenstunden durchsetzen konnten. Im Jahr 1939 habe bloß die Hälfte der elsässischen Bevölkerung die französische Sprache beherrscht.

Erst im Gefolge der Traumata von NS-Herrschaft und totalem Krieg brachen dann alle Dämme. Auf die über tausend Jahre währende weitgehende deutsche Einsprachigkeit des Landes und die anschließenden Jahrzehnte einer relativen Zweisprachigkeit folgte nun die  Tendenz zu einer neuen französischen Einsprachigkeit. Pierre Klein spricht vom Jahr 1945 als dem „Jahr Eins“ der totalen Assimilation des Elsaß in den vom jakobinischen Zentralismus beherrschten französischen Staat. Ausschließlich auf deutsch verfaßte Presseorgane waren fortan verboten. Um 1960 kippte die sprachliche Lage endgültig: Französisch wurde nicht nur in der politischen Theorie, sondern auch im Alltag wichtiger als Deutsch.

Die Tilgung des Hochdeutschen aus dem öffentlichen Leben brachte zugleich den schleichenden Tod der angestammten alemannischen oder fränkischen Dialekte. Wenn heutzutage – da bloß noch eine Minderheit von etwa 40 Prozent der 1,8 Millionen Einwohner diese Mundarten kann und noch weniger sie im Alltag verwendet – selbst unter wichtigen Regionalpolitikern über die wünschenswerte Rettung des „Elsässerditsch“ geredet wird, dann sollte man wissen, daß dies, wenn überhaupt, nur über eine gleichzeitige drastische Aufwertung der deutschen Hochsprache möglich ist.

Voraussetzung wäre eine bildungspolitische Kehrtwende in Form einer drastischen Erhöhung der Zahl zweisprachiger Klassen, wie sie der Verein „Kultur und Zweisprachigkeit“ oder die „René-Schickele-Gesellschaft“ seit langem einfordern. Denn inzwischen nehmen nur noch ungefähr zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen an bilingualen Unterrichtsformen staatlicher oder privater Schulen teil. Nur ein Prozent aller Erstklässler, die 2010 eingeschult wurden, konnten noch den elsässischen Dialekt.

Immerhin: Es gibt Signale der Hoffnung. „Elsässerditsch“ findet mehr und mehr Freunde. So bietet Olca heute rund viermal soviele Deutsch-Sprachkurse an wie noch 2005. Olca-Präsident Vogel macht ein allgemein wachsendes Interesse an den kulturellen Wurzeln aus, die seine Organisation unter anderem durch Werbung für elsässerdeutsche Kleinkind-Spielgruppen, Plakat- und Internetkampagnen („JA fer unseri Sproch“), Mundarttheater und -konzerte fördert. Zu den mutmaßlichen Gründen sagt er: „Vielleicht bringt die Globalisierung diese Rückbesinnung und ein Bedürfnis nach Heimat mit sich.“ Ähnlich wie manch andere heimatbewußte Landsleute hoffen Pierre Klein und Justin Vogel, daß die aufkeimende Sehnsucht nach echter Identität im Elsaß nicht von Gedankenlosigkeit, geschichtspolitischer Verblendung und dem zähen Pariser Zentralismus erstickt werden möge.

 www.olcalsace.org www.alsacezwei.voila.net

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