© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Alles Glück der Welt
Weg nach Bethlehem: Wenn der heilige Joseph singt, wendet sich Schmerz in Zärtlichkeit
Jens Knorr

Das Lied hat keinen eigentlichen Beginn. Der Hörer tritt in ein Geschehen ein, das länger schon so geht. Langsam und ruhig und doch ruhelos gleiten die Achtelnoten in der rechten Hand über die gehaltenen Bässe in der linken hinweg. Darüber nun legt sich die Gesangsstimme, die ebenso unerwartet und ohne Aplomb einsetzt, wie das Lied selbst eingesetzt hat.

Ein Mann spricht zu einer Frau, ermuntert sie, immerfort zu wandern, da der Morgen und das Ziel der Wanderung nahe seien. Das Lied in Barform ist kein Lied über, sondern ein Lied auf einer Wanderung, einer besondern, wie zu hören sein wird. Es ist ein Rollenlied. Das Ziel der Reise wird benannt, es fällt mit dem musikalischen Zielpunkt des Stollens der Barform zusammen, durch ein Diminuendo vorbereitet und eine Fermate, dem sogenannten Ochsenauge, hervorgehoben. In diesem Moment des Innehaltens, ganz leise, pianissimo, nennt der Mann den Namen des Ortes: Bethlehem.

Es ist der Mann, von dem die kanonischen Bücher des Neuen Testaments kein einziges Wort überliefern, der da spricht oder vielmehr singt, daran läßt die dem Lied voranstehende ausdrückliche Anweisung keinen Zweifel: „Der heilige Joseph singt“. Das Lied ist das dritte der „Geistlichen Lieder“ aus dem „Spanischen Liederbuch“, der von Emanuel Geibel und Paul Heyse übersetzten spanischen Dichtungen des 16. und 17. Jahrhunderts, das 1852 erschien. Hugo Wolf hat daraus 44 Gedichte zwischen dem 28. Oktober 1889 und dem 27. April 1890 in Perchtoldsdorf bei Wien vertont, in einem ekstatischen Schaffensrausch, dieses hier am 4. November. Das Ehepaar Heinrich und Marie Werner hatte dem bitterarmen Komponisten sein Haus überlassen, das es während der kalten Jahreszeit nicht selbst bewohnte.

Nicht die erwartete G-Dur-Tonika steht am Ende des Stollens, sondern überraschend ein H-Dur-Akkord, die Dominante zu der Grundtonart des Liedes, e-Moll, in der die Achtelbewegung wieder aufgenommen wird und eine hastige Aufwärtsbewegung in Sechzehnteln den heiligen Joseph Tritt fassen läßt. Nur scheinbar nimmt der Gegenstollen den ruhigen Fluß des Stollens auf, vielmehr bereitet die stufig aufsteigende Gesangslinie eine spannungsvolle Passage mit unreinen Intervallsprüngen zu vollgriffigen Akkorden in der Linken vor. Die illustrieren nicht die einsetzenden Wehen der Frau, sondern geben dem Mitleiden des Mannes Ton und Ausdruck. Josef nimmt Marias Schmerzen als die seinen an. Aber was ist mit ihrem Kind?

Hier ist nicht der Ort, in dem jahrtausendewährenden Streit um den Urheber des Kindes Partei zu ergreifen, und Heiligabend wohl auch nicht die rechte Zeit. Doch verfehlte den heiligen Joseph des Wolfschen Liedes, wer den Zweifeln nicht eben jenes Gewicht zugestünde, mit dem sie auf seinem Denken und Fühlen gelastet haben mußten, als Maria mit dem Kind schwanger ging. Sie stehen ihm ins Gesicht geschrieben, als er Maria anblickt, sie dem Blick nicht standhält und die Augen niederschlägt. Wir sehen Maria mit gewölbtem Bauch stehen und Joseph sich abwenden und den Hof verlassen, auf karstigem Weg am Rande der Stadt davonlaufen, spielenden Kinder entgegen, deren keines von ihm, aber eines neben den anderen wie ein Engel aussieht. Wir sehen ihn von einer plötzlichen Müdigkeit übermannt an dem Stein niedersinken und einen Engel im Traum zu ihm sprechen, daß er sich nicht fürchten solle, seine Gemahlin zu sich zu nehmen, denn das in ihr Geborene sei aus dem heiligen Geiste. Vor dem Engel hat keiner gesprochen. Der Engel bricht das Schweigen.

Da steht dem Joseph des Marcello Morante – ein Laiendarsteller wie alle Darsteller in Pasolinis Film „Il Vangelo secondo Matteo“, dessen erste Sequenz hier erzählt wird – ein Blick ins Gesicht geschrieben, der alles Glück der Welt umfaßt und als ein Lächeln im Gesicht der Maria der Margherita Caruso widerscheint.

Glauben übersetzt Pasolini mit Vertrauen, unbedingtem, unerschütterlichem Vertrauen. Diese Übersetzung von Glauben in Vertrauen müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, wenn wir uns den heiligen Joseph des Liedes vorstellen. Es gibt der innigen Gesangslinie über der fortlaufenden Begleitung, die den Boden der Dur-Moll-Tonalität zu weiten Erkundungen in erweiterte und freie tonale Bereiche unter sich läßt, sicheren Grund und Ruhe. Der widerspruchsvolle Gestus von Dringlichkeit und Beruhigung stellt sich aber nur her, wenn Sänger und Pianist das Lied nicht schnell nehmen, sondern, wie gesagt und vorgeschrieben, langsam und ruhig. Zumindest Peter Anders und Michael Raucheisen ist das geglückt, auch wenn die Stimme des Tenors in der Aufnahmesitzung vom 10. November 1944 nicht in bester Verfassung gewesen zu sein scheint.

Der Abgesang wendet Schmerz in Zärtlichkeit, die nicht beschrieben, aber gesungen werden kann. Um der Frau die glückliche Geburt zu lohnen, würde er seinen Esel verkaufen, wertvollster Besitz und Transportmittel des Zimmermanns. Auf dem Wege nach Bethlehem und auf dem besten Wege zur Heiligen Familie, kann Joseph nicht wissen, daß er das duldsame und störrische Tier sehr bald wieder brauchen wird.

Dreimal wurde im Lied das Krähen der Hähne und die Nähe des Ortes beschworen, dreimal die erfüllende Tonika verweigert. Beim vierten Mal wird sie gegeben, das e-Moll des Anfangs wandelt sich zu lichtem E-Dur. Gesang und Klavierstimme werden leiser, Josephs Gesang klingt „wie aus weiter Ferne“, noch schwingen die Schritte der Gruppe in der Begleitung nach, dann verlieren sie sich in dreifachem Piano.

So muß es gewesen sein: Jener Mann, der in der christlichen Ikonographie mit dem Jesuskind auf dem Arm dargestellt wird – auf kitschigen Bildchen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gar als sorgender Vater und Lehrmeister des fremden, eigenen Kindes – war drinnen im Stall von Bethlehem, bei Maria, um ihr Stündlein gemeinsam zu bestehen.

Foto: Guido Reni, Joseph mit dem Jesuskind (um 1635): Die kanonischen Bücher des Neuen Testaments überliefern von Joseph kein einziges Wort

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