© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Lockerungsübungen
Demokratie kann warten
Karl Heinzen

Hashim Thaci, der Ministerpräsident des Kosovo, ist aus den jüngsten Parlamentswahlen seines Landes erneut als Sieger hervorgegangen. Die Vorwürfe, es sei bei dem Urnengang nicht mit rechten Dingen zugegangen, dürften ihn kaum belasten. So etwas ist heute weltweit gang und gäbe. Schwerer wiegen für Thaci die durch den Schweizer Dick Marty, einen Abgeordneten des Europarates, erhobenen Beschuldigungen, er sei ein Haupt der organisierten Kriminalität auf dem Balkan und in Delikte wie Drogen- und Organhandel sowie Mord verstrickt. Sollten sie sich erhärten, wäre die Geduld der internationalen Gemeinschaft, die den Eliten des von ihr umsorgten Zwergstaates sonst manches nachsieht, doch etwas überstrapaziert.

In Mitleidenschaft gezogen ist aber nicht nur die Reputation des Kosovo, sondern auch jene der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Streitkräfte sind in zwei Staaten mit nennenswerten Kontingenten im Einsatz, um Seite an Seite mit Verbündeten geordnete Verhältnisse im Geiste von Demokratie und Menschenrechten zu schaffen, und in beiden Fällen will das Vorhaben nicht so recht gelingen. In Afghanistan mag sie ja noch zu ihrer Entschuldigung anführen, daß es sich nun einmal um einen anderen Kulturkreis handelt. Im Kosovo verfängt diese Ausrede nicht.

Versuch einer Minderheit, sich zur Herrschaft über die Mehrheit aufzuschwingen.

Das Problem ist aber nicht die tatsächliche Regierungsführung in Afghanistan oder im Kosovo, sondern ein Denken, das diese nicht einzuordnen weiß. Wer unter „Nation Building“ die Errichtung einer rechtsstaatlichen Demokratie aus dem Nichts versteht, kann nur scheitern, weil er den letzten Schritt vor dem ersten setzen möchte. Wenn ein neuer Staat entstehen soll, muß man ihm die Chance geben, sich zunächst die Attribute zuzulegen, die ihn im Kern zu einem solchen machen.

Am Anfang eines jeden Staates steht der auf Gewalt gestützte Versuch einer Minderheit, sich zur Herrschaft über die Mehrheit aufzuschwingen. Deren Etablierung schafft erst die Voraussetzung dafür, daß eine Zivilgesellschaft sich Gedanken darüber machen kann, was zum Schutz des einzelnen oder im Interesse einer Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen wünschenswert wäre. Auch die westeuropäischen Demokratien sind nicht über Nacht entstanden. Man wird Afghanistan und dem Kosovo also noch etwas Zeit gönnen müssen.

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