© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Werde Wachsoldat an der „Friedensgrenze“
Ein Computerspiel verherrlicht den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze / SED-Opfer empört
Frank Liebermann

Ein DDR-Grenzsoldat steht auf seinem Wachturm. Auf der Mauer, auf der Lauer. Er schaut nach rechts, er schaut nach links, das Gewehr lässig mit einer Hand haltend. Sein Auftrag: sogenannte Republikflüchtlinge vom Grenzübertritt abhalten. Wenn er jemanden sieht, der versucht, den Grenzzaun zu überwinden, dann legt er an – und feuert, bis sich nichts mehr bewegt.

Das sind Szenen aus dem neuen Computerspiel „1378 km“, das zu den sogenannten Ego-Shootern gehört. Bei diesem Spielgenre laufen Spieler frei beweglich durch virtuelle Räume oder Landschaften und schießen mit allerlei Waffen auf potentielle Gegner. Castle Wolfenstein, Half-Life, Duke Nukem und Doom bereiteten der Spielgattung den Weg. Je nach Spiel waren die Gegner Nazis, Außerirdische oder Zombies. Die Spiele machen Spaß, sind aber nicht unbedingt pädagogisch wertvoll.

„1378 km“ ist im Jahr 1976 angesiedelt. Die Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, an der das Spiel entwickelt wurde, rechnet es zu den sogenannten „Serious Games“, also den ernsthaften Spielen. Es soll zum Nachdenken über die Mauertoten anregen. Seinen Namen hat das Spiel wegen der Länge der DDR-Grenze nach Westdeutschland bekommen. Der Spieler kann zwischen den Rollen des „Republikflüchtlings“ oder des „Grenzsoldaten“ wählen.

Dabei hat der Flüchtling das Ziel, Selbstschußanlagen, Stacheldrahtzäune oder Panzersperren zu überwinden, um in den Westen zu gelangen. Die Aufgabe des Grenzers ist noch einfacher. Er soll das verhindern. Dabei schießt er den Flüchtlingen in den Rücken oder in den Kopf und bekommt, wenn er genügend erledigt hat, dafür einen Orden. Allerdings kann es auch geschehen, daß er sich später in einem Mauerschützenprozeß wiederfindet. Ebenso kann der Grenzer auch mit dem Flüchtling kooperieren und ebenfalls rübermachen. Das Spiel läßt sich auch ohne einen einzigen Schuß abzugeben gewinnen.

Der 23jährige Jens Stober ist der Macher des Spiels und behauptet, einen „gesellschaftskritischen“ Ansatz zu verfolgen. Das Spiel entwickelte er im Rahmen seines Studiums. Jugendliche möchte er zum Nachdenken über die Opfer an der Mauer anregen, darüber hinaus möchte er Wissen vermitteln und das Dilemma zwischen Befehl und Moral verdeutlichen.

Zweifel an diesem Ansatz äußern viele Vertreter von Opferverbänden. Die Umsetzung der Idee empfinden sie als menschenverachtend. Der Direktor der Berliner Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, legte der Hochschule nahe, sich einmal mit den Opfern zu besprechen, bevor das Spiel veröffentlicht wird, und der Direktor der Stiftung Berliner Mauer, Axel Klausmeier, nannte das Spiel „geschmacklos“. Die erste Präsentation zum Tag der Deutschen Einheit wurde wegen Protesten und Drohungen abgesagt.

Aufreger um Ego-Shooter gibt es immer wieder. Die Zeitdauer, bis Medien hyperventilieren, ist in der Regel sehr kurz. Als die USA Probleme bekamen, Personal für die Armee zu finden, entwickelte die Armee mit „America’s Army“ einen eigenen Ego-Shooter, der gratis zur Verfügung gestellt wurde. Kritik hagelte es, da auf diese Art Jugendliche spielerisch zum Kriegsdienst motiviert werden sollten. Erst vor kurzem fügte die Firma Electronic Arts dem Spiel „Medal of Honor“ eine Mission bei, in der es um den Kampf gegen die Taliban in Afghanistan ging. Aufgrund von massiven Protesten zog der Hersteller die Version zurück. „1378 km“ sorgt für einen ähnlichen Aufruhr. Stober erreicht damit vermutlich genau sein Ziel. Er interessiert Menschen für das Thema, die über andere Medien eher schlecht zu erreichen sind.

Das Spiel ist technisch nicht sehr anspruchsvoll, auch wenn es ziemlich schwer zu installieren ist. Die Spielidee ist banal. Ob Stober damit als begabter Medienkunststudent in die Geschichte eingeht, ist unklar. Einen Master in „Öffentlichkeitsarbeit“ hat er sich aber schon jetzt verdient.

 www.1378km.de

Foto: Virtueller DDR-Grenzsoldat: Bei „1378km“ schlüpft der Spieler in die Rolle eines „Grepos“

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