© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Nation als Option
Wähl dir dein Land
von Jost Bauch

Modernität bedeutet, daß Wahlchancen an die Stelle überkommener Bindungen treten. Das Schicksal der Menschen liegt bei ihnen selbst, sie werden durch keine Naturschranken oder gesellschaftliche Obligationen mehr eingeschränkt. Das Motto heißt: Wähle und entwirf dich selbst, wähle dein Geschlecht, wähle deine sexuellen Vorlieben, wähle deinen Körperbau, wähle deinen Glauben, den Sinn des Daseins, wähle den Beruf usw. Zunehmend steht auch die Nation, zu der der einzelne sich zugehörig fühlt, zur Disposition. Für immer größere Bevölkerungskreise gilt, daß sie ihre Nationalzugehörigkeit selbst bestimmen. Sie wählen das Land, in dem sie leben wollen, und lassen sich dies nicht mehr durch Herkunft und dem Zufallsort der Geburt vorherbestimmen.

Eine solche Auffassung von Nation ist neu. Ursprünglich leitet sich der Begriff der Nation von „natio“ bzw. „nasci“ aus dem Lateinischen ab und bedeutet soviel wie „geboren werden“. Die Nationalzugehörigkeit einer Person war so in der traditionellen Auffassung Schicksal. Wie man schicksalhaft mit seiner Familie und seinen verwandtschaftlichen Beziehungen verbunden war, so war man auch „natürlich“ und schicksalhaft mit der Nation verbunden, in die man hineingeboren wurde. Durch Geburt und Abstammung gehörte man einem Volk an, einer „natürlichen Gemeinschaft“, die sich über die staatlichen Institutionen zu einer „Staatsnation“ entwickelte.

Geprägt wurde diese Vorstellung von Nation ganz wesentlich von Johann Gottfried Herder, dem maßgeblichen Denker der romantischen Schule. Der einzelne ist nach Herder schicksalhaft mit der Gemeinschaft verbunden, er ist Bestandteil von konzentrischen Kreisen, von der Familie, den Stämmen, den Völkern und Nationen. Gemeinschaft, Gesellschaft, Staat, Nation (die Begriffe werden bei den Romantikern noch weitgehend synonym gebraucht) sind weniger – wie das der französisch inspirierte Rationalismus suggeriert – Projekt und Produkt des eigenen Handelns. Vielmehr sind sie das Umfangende, das Bergende, aus dem das Individuum gar nicht hinausschlüpfen kann.

Man werde, so schrieb Adam Müller, aus dem Mutterleib nicht ins Freie entlassen, sondern in den „Gesellschaftsleib“ hineingeboren. Er fragt: „Treffen nicht alle unglücklichen Irrtümer der Französischen Revolution in dem Wahne überein, der einzelne könne wirklich heraustreten aus der gesellschaftlichen Verbindung und von außen umwerfen und zerstören?“ In Nationen manifestieren sich „Volksgeister“, die jeden einzelnen erfassen und zum Glied des großen Verbandes der Nation machen. Dabei vertraten die Verfechter der romantischen Schule kein nationalistisches Pathos, alle Volksgeister waren nach ihrer Vorstellung gleichwertig. So schreibt auch Herder: „Kein Volk ist ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde … So darf sich auch kein Volk Europas von anderen abschließen, und töricht sagen: bei mir allein, bei mir wohnt alle Weisheit.“

Allerdings kommt der deutschen Nation nach der Vorstellung der Romantiker eine besondere Rolle zu. Als Nation sind die Deutschen verspätet in der Geschichte angekommen, sie gehen dabei einen langsamen und sicheren Gang. Während andere, vorauseilende Nationen „durch Krieg, Spekulation und Parteigeist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem Fleiß zum Genossen einer höheren Kultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Übergewicht über die anderen im Laufe der Zeit geben“ (Novalis).

Andere Nationen entwickeln sich territorial auf platter Erde, dagegen arbeite die deutsche Nation „an dem ewigen Bau der Menschenbildung“ (Schiller). Rüdiger Safranski schreibt dazu in seinem lesenswerten Buch „Romantik. Eine Deutsche Affäre“: „Der Gedanke der Kulturnation ist bei Novalis und Schiller noch im Geiste einer universalistischen Mission formuliert, die Wertschätzung des Eigenen ist noch nicht verbunden mit der Verachtung des Fremden.“

Kulturnation im Sinne der Romantik bedeutet für den einzelnen, daß er gar nicht aus dem ihn ursprünglich prägenden Kulturkreis heraustreten kann. Selbst in der Fremde bleibt er Teil der Nation; er kann diese Prägung durch Sprache, Sitte, Gewohnheit nicht wie ein Hemd wechseln. Die Nationalangehörigkeit einer Person klebt an dieser wie individuelle Charaktereigenschaften.

Als Gegenkonzept zur deutschen Version der Kulturnation, die nach Friedrich Meinecke die damalige deutsche Situation abbildete, daß Nation ohne territoriale und politische Einheit nur als ethnische und kulturelle Einheit gedacht werden kann, hat sich im Gefolge der Französischen Revolution eine französische Version herausgebildet. Hier wird wesentlich Nation nicht über Kultur, sondern über den politischen Willen definiert. Diese Vorstellung gipfelte in der Behauptung von Ernest Renan, Nation sei das Ergebnis eines „plébiscite de tous les jours“ (ein tägliches Plebiszit).

Mit diesem „voluntaristischen“ Nationen-Begriff kommen wir der heutigen optionalen Auffassung von Nation recht nahe. Allerdings steckt hinter diesem Votum mehr politische Propaganda als alltägliche Lebenswirklichkeit. Auch in Frankreich war ein richtiger Franzose jemand, der aus Frankreich stammte, dort geboren war und französisch sprach. Dies bezeugt der Assimilierungsdruck, dem Minderheiten wie Basken, Bretonen und Deutsche in Frankreich ausgesetzt waren. Das voluntaristische Konzept übersieht zudem, daß Nationenbildung immer von „objektiven“ Faktoren wie gemeinsamer Herkunft, Kultur, Geschichte, Territorium und dem subjektiven Faktor – dem politischen Willen, eine Nation zu sein – gleichermaßen abhängt.

Heute, im Zeitalter des Globalismus und der Multikultur verliert die Vorstellung der Nation als Schicksalsgemeinschaft und als relativ eigenständiger Kulturraum zunehmend an Bedeutung. Die Nationalzugehörigkeit wird optioniert und zur individuellen Disposition gestellt. Das beginnt mit der Umstellung des Staatsangehörigkeitsrechts vom „ius sanguinis“ (Abstammungsprinzip) auf das „ius soli“ (Geburtsortprinzip), wonach jeder, der sich eine bestimmte Zeit in einem Staatsraum aufhält, die entsprechende Staatsangehörigkeit erhält.

Aus dem Volk wird die Bevölkerung, letztere ist je nach Konjunkturlage disponierbar und ist durch keine ethnische oder kulturelle Chiffre limitiert. Für die westlichen Industrienationen wird die Lage prekär, weil sie auf Bevölkerungsimporte großen Ausmaßes angewiesen sind. Sie selbst sind nicht in der Lage, eine stabile, sich selbst tragende Bevölkerungsstruktur zu etablieren, Nachwuchskräfte fehlen, die Bevölkerung vergreist und die sozialen Sicherungssysteme stehen vor dem Kollaps. Der Nationalgedanke wird angesichts dieser Sachlage ökonomisiert und kommerzialisiert.

Der Nationalstaat mutiert dabei zu einem Markenzeichen, zu einem „Label“ mit „corporate identity“, das für den einzelnen mit Attraktivitätsboni oder -mali ausgestattet ist. Die Nationen stellen sich zur Wahl. Schließlich geht es darum, leistungswillige junge Menschen aus Ländern der Dritten Welt und der Schwellenländer mit „green cards“ oder „blue cards“ anzulocken. Ein neuer Menschenhandel entsteht, diesmal nicht angetrieben durch Zwangsverschleppung wie zur Zeit des Sklavenhandels, diesmal betrieben durch Lockangebote und günstige Einstiegskonditionen in das Aufnahmeland.

So soll in den USA jeder Ausländer, der ein Studium abschließt, automatisch eine „green card“ erhalten, und man denkt darüber nach, jedem Ausländer, der eine Aufnahmeprüfung in den Natur- oder Ingenieurwissenschaften übersteht, gleich einen amerikanischen Paß zu übergeben. Der Nationalgedanke wird dabei „verramscht“, er wird Teil einer weltweiten Krämerphilosophie, die Populationen werden wie Warenpakete zwischen den Staaten und Nationen hin und her geschoben. Der weltweiten Zirkulation der Waren folgt eine weltweite Zirkulation von talentierten jungen Bevölkerungsanteilen. Nationen verkommen im Zeitalter des Globalismus zum Basar von Populationen.

Deutschland hat es auf dem neuen „Bevölkerungsmarkt“ besonders schwer. „Der wahre Reichtum der Nationen besteht in der Intelligenz der Bevölkerung. Doch hierzulande sorgen Sozial- und Einwanderungspolitik dafür, daß wir auf Dauer verarmen werden“, schreibt Gunnar Heinsohn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Von hundert Nachwuchskräften, die das Land benötigt, werden fünfunddreißig nie geboren, wandern zehn aus und schaffen fünfzehn keine Berufsausbildung.“ Heinsohn resümiert, daß Deutschland keine Chancen hat im weltweiten Wettbewerb um Einwanderungstalente, weil mehr als die Hälfte des Einkommens weggesteuert und „wegsozialversichert“ wird. Diese werden nicht „in Dortmund siedeln, sondern nach Melbourne, Seattle oder Toronto streben, wo man sie ebenfalls dringend benötigt, ihnen aber nur 20 bis 25 Prozent abnimmt“.

Entsprechend ruft die deutsche Industrie nach dringend gebrauchten Fachkräften aus dem Ausland. Bereits jetzt, so das Institut der deutschen Wirtschaft, sind 66.000 Stellen im sogenannten MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) unbesetzt und in vier Jahren könnten es über 220.000 Stellen sein. Unternehmer fordern für ausländische Fachkräfte das Aussetzen jeglicher Einwanderungsbürokratie. Sie wollen Lockprämien einführen, und einige Unternehmen haben ihre Unternehmenssprache schon auf Englisch umgestellt, damit es ausländische Fachkräfte einfacher haben, sich in das Unternehmen zu integrieren.

Den Anwerbungskampf um sogenannte hochqualifizierte Nicht-EU-Ausländer hat Deutschland schon längst verloren. Zwischen 2005 und 2008 waren es lediglich 459 Personen dieser besonderen Spezies, die nach Deutschland gekommen sind. In Amerika gehören 55 Prozent der Einwanderer zu den Hochqualifizierten, in Australien sind es 85 Prozent, in Kanada sogar 99 Prozent. In Deutschland rechnet man mit einer Hochqualifizierten-Quote von 5 bis 10 Prozent.

Die „Ware“ Bevölkerung bewegt sich zwischen den Nationen im Zeitalter der Globalisierung nicht nur in eine Richtung, von den Entwicklungsländern zu den Industrie­ländern. Wenn es nach dem amerikanischen Soziologen Jack A. Goldstone ginge, könnte demnächst eine Bevölkerungsflut in umgekehrter Richtung losgetreten werden. In der Zeitschrift Foreign Affairs regt er allen Ernstes an, ältere Menschen aus den Industrienationen in die Dritte Welt zu exportieren. Das hätte für alle Beteiligten viele Vorteile: Die Pflegekosten in der Dritten Welt seien erheblich niedriger, die Industrienationen würden dadurch entlastet. Gleichzeitig würden in der Dritten Welt Arbeitsplätze entstehen, die den Migrationsdruck vermindern.

Deutlich wird: Die Bevölkerungen der Nationen werden zunehmend einem ökonomischen Wettbewerbskalkül unterstellt. Man gibt sich dabei multikulturell, modern und weltoffen und übersieht dabei, daß die Menschen ein Recht auf Heimat haben, das sich nicht auf ökonomische Kategorien reduzieren läßt. Hier decouvriert sich das multikulturelle Projekt der Moderne wieder einmal als Ausgeburt des Antihumanismus.

 

Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrt Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Ende freier Wissenschaften („Ankündigungen und Gefälligkeiten“, JF 34/10).

Jost Bauch: Der Niedergang. Deutschland in der globalisierten Welt. Schriften wider den Zeitgeist, Ares Verlag, Graz 2010. Das Buch  fragt nach dem Überleben einer Nation im globalen Zeitalter, beschreibt Problemlagen und Gegenstrategien.

Foto: Die Qual der Wahl: Die „Krämerphilosophie“ des Globalismus hat die Nationalzugehörigkeit der Staatsbürger zum Pokerspiel um die besten Köpfe pervertiert

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