© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Der Flaneur
Schuld und Sühne
Josef Gottfried

Kann Gottesdienst ein Spaziergang sein? Manchmal ist er es. Manchmal ist er auch nur ein Schritt vor die Tür, ein kurzer Blick nach draußen, ein Grußwort zum Nachbarn, das Lächeln, ein paar Scherzworte und die vier bis fünf Hände, die man im Anschluß schüttelt. Manchmal kann er auch Wanderung und Wallfahrt sein, das sind wohl Dinge, die sich im Gläubigen entscheiden. Oder in jenem, der guten Willens ist. Höhepunkt ist die Wandlung, das allwöchentliche Gotteserlebnis der Katholiken, die rituelle Realpräsenz Jesu Christi. „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird“, sagt der Priester und meint die Hostie, welche die Gläubigen kurz darauf empfangen.

Vor mir sitzt eine Familie, die Eltern sind Mitte 30, die drei Kinder zwischen zwei und sieben Jahren. Nette Leute, wie mir scheint, beim Friedensgruß haben sie mir herzlich die Hand geschüttelt. Ihr Jüngstes testet das Echo der Kirche aus und quiekt ein wenig – kennt man ja von Kindern. Die Mitdreißiger ermahnen ihr Kleines zur Ruhe. Während ich mir also Gedanken über die Familie und ihr quiekendes Kind mache, beten wir das „Lamm Gottes“.

„Alle erheben sich, nur der Vater bleibt sitzen. Er könnte schwer gesündigt haben.“

Dann erhebt sich die Gemeinde, langsam fädeln sich zwei Reihen entlang der Bänke auf, wir stehen an zum Empfang der Hostie. Die Mutter vor mir auch, ebenso ihre Kinder, der Priester wird ihnen ein Kreuzzeichen auf die Stirn geben. Nur der Vater bleibt sitzen. Er beugt den Rücken und verbirgt sein Gesicht in der rechten Hand. Ich bin ein wenig konsterniert und muß mich konzentrieren, um nicht hinzustarren. Was mag wohl mit ihm sein?

Er könnte eine schwere Sünde begangen haben. Oder fortgesetzten Ehebruch. Die Phantasie geht mit mir durch und eine meiner seltsamen Seiten fängt an, innerlich Steine zu sammeln. Jedenfalls bis ich es merke. Dann bin ich ihm dankbar. Dafür, daß er uns zeigt, wie ernst sie ist, die Sache mit der Kommunion. Ernst genug, sie nicht zu empfangen.

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