© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/11 07. Januar 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Das Thema 2011 für die „Luther-Dekade“ ist „Reformation und Freiheit“. Außerhalb der engen Grenzen des deutschen Restprotestantismus interessiert das niemanden. Wenn doch, dann wird mit Wohlgefallen auf die Betonung der „Freiheit“ geblickt, zufrieden, daß die evangelische Kirche sich endgültig von Intoleranz, Glaubenszwang und Alleinvertretungsanspruch losgesagt hat. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere sogar an jenes bürgerliche Selbstverständnis, das seit der Aufklärung die Reformation als einen ersten Akt der großen Emanzipation deutete. Genauer müßte man sagen: fehldeutete. Denn das, was Luther unter der „Freiheit eines Christenmenschen“ verstand, hatte wenig mit politischer Selbstbestimmung zu tun, noch weniger mit moderner Autonomie. Aber das Mißverständnis ist tief verankert und gewollt, und die kirchlichen Oberen hüten sich, es zu korrigieren. Sie hoffen, daß sie wenigstens da auf der Höhe der Zeit erscheinen. Irgendwann kandidierte eine Dame – erfolgreich – für den Kirchenvorstand meiner Gemeinde mit der Behauptung, Evangelisch-Sein heiße, man könne glauben, was man wolle.

Geistige Produktivität setzt immer ein Maß Ungeselligkeit voraus.

Das Elend der evangelischen Theologie in einem Satz: Margot Käßmann hat ihre Lehrtätigkeit aufgenommen.

Vorzeichen: Unter den 52 Orden, die Bismarck im Lauf seines Lebens verliehen bekam, war kein britischer.

Während des Schulgottesdienstes wurde Psalm 1 in einer angeblich kindgemäßen Version gebetet: „Wenn ich auf dich höre, mein Gott, wenn ich das tue, was dir gefällt, / dann bin ich wie ein Baum am Ufer eines Baches. / Viel Wasser kann der Baum dort trinken. Er wächst und wächst. / Er trägt große rote Äpfel. Und seine Blätter sind immer grün. / So bin ich, wenn ich an dich denke, mein Gott: wie der große, runde Baum“ (Regine Schindler und Arno: Im Schatten deiner Flügel. Die Psalmen für Kinder, Düsseldorf 2005). Derlei ist nicht untypisch, und trotzdem Ausdruck von Ignoranz oder Willkür, keine pädagogisch vertretbare Neufassung eines sehr alten Textes für die heutige Vorstellungswelt, sondern Verhöhnung der eigentlichen biblischen Aussage, denn da heißt es: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen / noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des HERRN und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht! Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, / der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl. Aber so sind die Gottlosen nicht, sondern wie Spreu, die der Wind verstreut. Darum bestehen die Gottlosen nicht im Gericht noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten. Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht.“

Ein Detail zur Jünger-Ausstellung in Marbach: Da werden die Tagebücher vom Anfang der zwanziger Jahre, kleine Kladden, eng beschrieben, mit dem Hinweis präsentiert, daß Jünger die Zahlen regelmäßig durch Hakenkreuze verziert habe, mit „Swastiken“ heißt es in der Erläuterung, auch daß die „Swastika“ 1920 Parteiabzeichen der NSDAP wurde und daß sie in vielen Kulturen die Sonne symbolisiere. Das ist alles nicht verkehrt, aber der Schamhaftigkeit und der Distanz-erweiterung zwischen „Münchener“ und „Berliner“ Schule der nationalen Revolution denn doch zu viel.

Das Bild, das der heutige Protestantismus abgibt, hat sich lange vorbereitet. Auch das gewollte Mißverständnis der reformatorischen Grundanliegen ist nicht neu. 1924 schrieb der Theologe Friedrich Gogarten als Kommentar zu Luthers Schrift „Vom unfreien Willen“, einem Text von außerordentlicher Härte und dem Menschen der Gegenwart so sperrig wie kaum ein anderer: „Der Protestantismus hat längst mit dem Geiste der modernen Welt seinen Frieden gemacht. Er hat es entweder mit schlechtem Gewissen getan und darum so stillschweigend wie möglich. Das ist dann freilich nur darum der Friede mit dem Geiste der modernen Welt, weil es der Friede mit dem Geiste der Welt überhaupt ist. Hier behält der Protestantismus dann seine eigene Gestalt, aber sie verkümmert und wird unwirklich, weil er sich isoliert und in seinen Kirchen und Gemeinschaften ein Sonderdasein führt. Er wagt seinen Gegner kaum anzusehen und scheut es, sich klare Vorstellungen über ihn zu machen. Am liebsten leugnet er seine Existenz und tut so, als wäre alles noch so, wie es früher einmal war. Oder der Protestantismus hat ausdrücklich und mit gutem Gewissen seinen Frieden mit dem Geiste der modernen Welt gemacht. Er hat das getan fast bis zum völligen Aufgehen in die Moderne. Er hat zur Rechtfertigung dieser bis zur Selbstauflösung gehenden Vereinigung mit dem Geiste der modernen Welt das Dogma von der Identität des Protestantismus und des modernen Geistes aufgestellt.“

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 21. Januar in der JF-Ausgabe 4/11.

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