© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/11 07. Januar 2011

Das Echte im Falschen entdecken
Wie sich das zerstörte und eroberte Stettin unter polnischer Verwaltung entwickelte
Thorsten Hinz

Der entscheidende Satz des Buches ist der letzte: „Nur in einem Raum, der echt ist, kann man ein würdiges Leben führen.“ Geschrieben hat ihn ein Pole, dessen Vater sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Stettin als Schriftsteller niederließ. Doch wie kann der deutsche Osten für einen polnischen Bewohner zu einem „echten“ Lebensraum werden, wenn am Anfang ein umfassender Gewaltakt – die Austreibung und Ausraubung der seit Jahrhunderten hier ansässigen Deutschen – stand?

Diese Frage beschäftigte den Historiker Jan Musekamp am Beispiel der pommerschen Hauptstadt. Seine Dissertation liegt in einer schönen Buchausgabe des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt vor. Ihr Thema sind nicht die politischen und juristischen Voraussetzungen der polnischen Landnahme 1945, sondern die Binnenlogik ihres administrativen, moralischen, kulturellen und intellektuellen Nachvollzugs. Musekamps Doktorvater an der Viadrina in Frankfurt/Oder war der Osteuropa-Experte Karl Schlögel, dessen Credo „Im Raume lesen wir die Zeit“ er zu folgen versucht.

Stettin befindet sich westlich der Oder. Deshalb war bei den Polen das Gefühl der Vorläufigkeit hier noch stärker als in anderen ostdeutschen Regionen. 1959 stellte der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow bei einem Besuch klar, daß Stettin bei Polen bleiben würde. Erst im Mai 1989 wurde der Streit um die Seegrenze im Stettiner Haff mit der DDR vertraglich beigelegt.

Die Polen, die 1945 hier ankamen, fühlten sich begreiflicherweise fremd. Die Formel „wiedergewonnene Gebiete“ sollte ihnen die Fremdheit nehmen. Dazu wurde der Piastenmythos forciert, der schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts „zu einem Grundpfeiler des polnischen Geschichtsbildes“ geworden war. Er knüpfte an König Miezko an, dessen Herrschaft  im 10. Jahrhundert bis zur Lausitzer Neiße reichte. Musekamp erwähnt politische Kräfte der Zwischenkriegszeit, die „Polen um Gebiete des ‘piastischen Besitzstandes’, zu dem auch Stettin gehören sollte, zu erweitern“ gedachten. Gleichzeitig wurde eine polnische Ostseeküste zwischen Weichselmündung und Oder als Ziel verkündet. „Der Meereskult der Zwischenkriegszeit hatte bleibende Spuren im kollektiven Gedächtnis der Polen hinterlassen.“

Unerläutert bleibt, inwieweit diese Voraussetzungen im polnischen Selbstbild bis heute nachwirken. Der Verzicht erklärt sich wohl vor allem aus dem geschichtspolitischen Zwang, an der Monokausalität für Krieg und Vertreibung festzuhalten. Der Untergang des deutschen Stettin, schreibt der Autor, habe „mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933“ begonnen. Wenn er im Schlußteil über „Versöhnung“ und „Versöhnungsarbeit“ räsoniert, kann er damit also nur die Akzeptanz einer Universalschuld-Klausel zuzüglich ihrer finanziellen und moralischen Honorierung durch Deutschland meinen.

Detail- und kenntnisreich hingegen werden die Phasen lokaler Geschichtspolitik beschrieben. Löschung, Restaurierung, Aneignung und Umcodierung des deutschen Erbes verliefen von Anfang an parallel zueinander, wobei eine deutliche Tendenz hin zur Versachlichung erkennbar ist. Nach 1989 wurde zum Beispiel der Stettiner Komponist Carl Loewe als lokale Bezugsperson entdeckt. Solche Rekurse auf die alte Stadtgeschichte ermöglichen auch eine Abgrenzung gegen den Warschauer Zentralismus. Die Arbeiterproteste 1970 (JF 51/10) und ihre Niederschlagung, die in Stettin 16 Tote forderte, bilden ein genuin polnisches Darum der Stadtgeschichte. Den neuesten Anknüpfungspunkt bietet die Eu-ropa-Idee. Doch eine „echte“ Normalität ist längst noch nicht erreicht.

Blaß hingegen bleiben die „Monate des Übergangs“ 1945, so daß Interessenten weiterhin auf das 1995 erschienene Buch „Stettin Szczecin: 1945–1946. Dokumente Erinnerungen“ zurückgreifen müssen, das von der Ostseeakademie in Lübeck und dem Institut für Geschichte der Universität Stettin erarbeitet worden ist. Bis Juli 1945 gab es parallel zur polnischen auch eine deutsche Stadtverwaltung, die von Kommunisten dominiert wurde. Diese wehrten sich erbittert gegen die polnischen Ansprüche. Erst im  September wurde  die Demarkationslinie offiziell festgelegt.

Musekamp ist der komplexen Problematik sprachlich nicht immer gewachsen. Wenn er in aller Unschuld konstatiert, „auch die Sicherheit stellte in den ersten Wochen und Monaten ein gravierendes Problem dar“, dann klingt dieses an zivilen Standards orientierte Vokabular grotesk im Angesicht einer Situation, in der die Entrechtung und Un-Sicherheit der deutschen Bevölkerung das erklärte politische Programm bildeten. Solche Ärgernisse schmälern die Aussagekraft dieses ambitionierten Buches.

Foto: Blick über Stettin mit der Langen Brücke, kolorierte Postkarte um 1900: Stärkeres Gefühl der Vorläufigkeit als in Danzig oder Breslau

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