© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/11 07. Januar 2011

Schweizer sind gesinnungsethisch
Der Historiker Volker Reinhardt komprimiert die Geschichte unseres südlichen Nachbarn vom Rütli-Schwur bis zum Minarettverbot
Heinz Fröhlich

Im Anfang war der Tyrannenmord. Zwar gehört der Apfelschuß ins Reich der Legende, aber die Sage von Wilhelm Tell kräftigte das Nationalbewußtsein der Schweizer. Ihre Ahnen erstritten im späten Mittelalter die Unabhängigkeit im zähen Kampf gegen das habsburgische Joch. Friedrich Schiller hat demnach mit seinem „Wilhelm Tell“ die Schweiz erst geistig fundiert. Daher läßt Volker Reinhardt, bundesdeutscher Historiker an der Universität Fribourg, die Schweizer Geschichte erst  1291 beginnen, als drei „Urkantone“ schworen, das Recht auf Autonomie gemeinsam zu wahren.

Die stetig vergrößerte Eidgenossenschaft bildete eine hochkomplexe Gemengelage, die Reinhardt ohne allzu viel historische Interpretation klar und gründlich erläutert.

Wie dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, das die Schweiz 1648 verließ, fehlte ihr der Gesamtstaat. In einem System abgestufter Privilegien „dominierten die örtlichen Eigeninteressen“. Doch aufgrund ihres typischen Pragmatismus festigten die Schweizer den politischen Zusammenhalt. Die „Tagsatzung“ ermöglichte eine gewisse Koordination der souveränen Kantone.

Zwinglis Reformation, die katholische Beharrung und der Calvinismus teilten das Land in Parteiungen. Leider hat Reinhardt die Differenz zwischen deutschem und Schweizer Protestantismus nicht genauer dargelegt. Dem Dreißigjährigen Krieg blieben die Eidgenossen fern und betonten das Prinzip der Neutralität. Etliche Schweizer dienten aber als „Reisläufer“, sprich Söldner, fremden Mächten.

Der trotzige Sinn des Bergvolkes offenbarte Schattenseiten. Es gelang nicht, die politische Zersplitterung zu überwinden. Besonders die Urgemeinden, Schauplatz der Tellsage an der Rütli-wiese, lehnten einen Bundesstaat kategorisch ab. Ebenso hartnäckig verweigerten patrizische Oligarchien jeglichen Wandel. „Wie Italien sticht die Schweiz durch eine beträchtliche Eliten- und Besitzkontinuität hervor.“ Richtig vergleicht der Autor die alte Eidgenossenschaft mit dem erstarrten Venedig des späten 18. Jahrhunderts.

Nur ein gewaltiger äußerer Stoß konnte das Übel heilen. 1798 brachte die französische Besetzung das Ancien régime zum Einsturz. Privilegien fielen, der Bundesstaat wurde vorbereitet, den man 1848 dauerhaft errichtete. Ein Gleichgewicht der Kräfte bestimmte die Innenpolitik. Seit 1874 unterliegen Bundesgesetze dem Volksentscheid; der Alpenstaat avancierte zum demokratischen Musterland.

 Paradoxerweise blockierten manchmal Volksabstimmungen notwendige demokratische Reformen. Die Schweizer Frauen mußten sich bis 1971 gedulden, ehe sie wählen durften. Das eidgenössische Freiheitsideal lähmte auch die Entwicklung zum Sozialstaat. Erst 1947 wurde die Alters- und Hinterbliebenenrente eingeführt.

Bereits um 1800 war die Schweiz eines der am stärksten industrialisierten Länder. Nicht unproduktiven kolonialen Abenteuern, sondern der eigenen Tüchtigkeit verdankt unser Nachbarstaat seine wirtschaftliche und technologische Dynamik. Die Neutralität, die Schweizer von den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts verschonte, ließ sie nach 1945 nicht nur der Nato, sondern auch den Römischen Verträgen fernbleiben. Dem sich zur EU entwickelnden Wirtschaftsverbund bleiben sie bis heute standhaft fern, abgesehen vom Schengener Abkommen.

Innerhalb der Europäischen Union verlören die Schweizer ihre Selbstbestimmung und der Wohlstand schrumpfte. Reinhardt ignoriert diese logische Konsequenz. Die Schweizer seien eine „Staatsbürgernation“, an deren Wiege das „gesinnungsethische“ Bekenntnis zur Freiheit stehe. Fürchten deshalb die meisten Eidgenossen eine moslemische Invasion? Denn der Islam sieht in Wilhelm Tell die verkörperte Gottlosigkeit.

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