© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/11 14. Januar 2011

Angst vor der Zukunft
Kuba: Die wirtschaftlichen Reformansätze des Castro-Regimes tre¬ en auf eine verunsicherte Bevölkerung
Paul Leonhard

Millionen Kubanern ist bange vor der Zukunft. Sie befürchten auf der Liste der zu entlassenden Staatsbediensteten zu stehen. Wie wird es dann weitergehen, wovon sollen sie leben, wenn die Subventionen für Seife und Zahnpasta wegfallen? Das sozialistische Land steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Sieg der Revolution 1959. Das Haushaltsdefizit wird auf fünf Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung geschätzt. Praktisch ist das Land längst zahlungsunfähig. Kredite werden nur mit großen Verzögerungen bedient. Neue werden dem isolierten Land, das kein Mitglied des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank ist, nicht gewährt.

Zahlreiche ausländische Unternehmen, die auf der Insel in Joint-venture investiert haben, warten seit fast zwei Jahren auf ihr Geld. Nach Angaben des Nachrichtenportals Latina press hat die Regierung in Havanna bis zu einer Milliarde US-Dollar auf Konten von 600 ausländischen Kunden seit Beginn des Jahres 2009 eingefroren. Kubas Banken würden sich in einer systematischen Liquiditätskrise befinden, räumt Pavel Vidal, Wirtschaftsspezialist an der Universität Havanna, ein. Als Grund nennt er „Fehler bei der Regulierung des konvertierbaren Pesos“. Dieser war als Ersatz für den US-Dollar eingeführt worden und dient vor allem Ausländern auf Kuba als Zahlungsmittel. Kuba fehlen Devisen, um wie bisher 80 Prozent der dringend benötigten Lebensmittel zu importieren. Die Einnahmen im Tourismus sind zurückgegangen. Den völligen Kollaps verhindern nur Erdöllieferungen aus Venezuela und private Überweisungen im Ausland lebender Familienangehöriger.

Daß der jetzt verordnete Kapitalismus in kleinen Dosen die wirtschaftliche Katastrophe tatsächlich verhindern kann, ist ausgeschlossen. Dazu müßten sich die Gebrüder Castro tatsächlich zu tiefgreifenden und vor allem unumkehrbaren Reformen entschließen. Stattdessen bastelt man weiter an einem „neuen Sozialismus“. Dazu gehört auch die Aufkündigung „sozialistischer Errungenschaften“ wie die Vergabe von Grundnahrungsmitteln auf Lebensmittelkarte und das Recht auf Arbeit.

Raúl Castro will mit der angekündigten Liberalisierung „die Liebe zur Arbeit wecken“. Es dürfe nicht sein, daß Kuba „das einzige Land auf der Welt ist, in dem man leben kann, ohne zu arbeiten“. Damit zielt der Präsident auf die unproduktiven Staatsbetriebe, in denen 95 Prozent der Werktätigen angestellt sind. Bis zu einer Million staatlicher Arbeitsplätze sollen weggefallen. Das würde 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung betreffen. Allein im ersten Quartal sollen 500.000 Stellen wegfallen. Der Staat könne und dürfe nicht länger Unternehmen und Produktionseinheiten mit aufgeblasenen Gehaltslisten unterstützen, teilte die Einheitsgewerkschaft CTC mit. Die bisherige Praxis „schaffe schlechte Gewohnheiten und deformiere das Verhalten der Arbeiter“.

Der Ankündigung der Regierung, die seit der Revolution von 1959 nur noch in Rudimenten existierende Privatwirtschaft stärken zu wollen, wird in der Bevölkerung mit Mißtrauen begegnet. Es ist nicht vergessen, wie 1968 in einer „revolutionären Offensive“ sämtliche noch vorhandenen Privatunternehmen verstaatlicht wurden.

Erst seit 1993 werden wieder in einigen Bereichen des Tourismus Lizenzen vergeben. Allerdings veränderten sich die Bestimmungen ständig und der Abgabendruck stieg so, daß viele aufgaben. Jetzt kann jeder auf „eigene Rechnung“ arbeiten. 250.000 Lizenzen sollen vergeben werden. Die Liste der zugelassenen Gewerbe umfaßt 178 Positionen. Es handelt sich fast nur um einfache Dienstleistungen, die bisher schon – wenn auch oft „schwarz“ – angeboten werden. „Wie ein Repertoire der Armut und Abhängigkeit scheint diese Auflistung der privaten Arbeiten mehr an ein feudales Dorf gerichtet zu sein, als an ein Land im 21. Jahrhundert“, spottet die Bloggerin Yoani Sánchez.

Nach offiziellen Angaben arbeiten bereits 148.000 Kubaner selbständig. Sie betreiben kleine Restaurants oder Pensionen, haben Lizenzen als Fahrrad- und Motorradtaxifahrer. Auch die Lastwagen, die zu großen Teilen den Nah- und Fernverkehr beim Personentransport übernommen haben, sind Privatfahrzeuge. Allerdings wacht der Staat mit Argusaugen darüber, daß die Unternehmer nicht zuviel verdienen. Insbesondere für die im Devisenbereich tätigen Restaurant- und Pensionsbetreiber wurden immer neue Schikanen ersonnen. An diesen und einer unsicheren Gesetzgebung ist auch der Aufschwung in der Landwirtschaft gescheitert.

Die Verteilung von Brachland an die Bevölkerung war zwar international gefeiert worden, tatsächlich haben aber nur wenige Bauern von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Denn das Geschenk Castros war vergiftet. Die Pachtverträge gelten nur für zehn Jahre. Überdies sieht das Gesetz vor, daß der Staat bestimmt, was angebaut und zu welchem Preis es verkauft werden darf.

Wenn Wirtschaftsminister Marino Murillo jetzt betont, auch künftig werde Kuba nach den „Gesetzen des Sozialismus und nicht des Marktes funktionieren“, bedeutet das weiterhin Willkür. Neu ist, daß es Lizenzen zur Gründung von Kleinbetrieben geben soll und sogar Personen eingestellt werden können. Die dürften dann aber aus dem unmittelbaren Familienkreis kommen, denn „zwei Hände, die arbeiten, bedeuten auch zwei Hosentaschen, in die hineingestopft wird“, benennt der Betreiber eines privates Kleinrestaurants eines der Probleme.

Nur eine grundlegende Liberalisierung der Wirtschaft könnte zu einem Aufschwung führen. Dazu gehört insbesondere die Eindämmung der ausgeuferten Bürokratie und die Rechtssicherheit für Selbständige. In der Praxis steht zu befürchten, daß diese künftig aus dem sozialen Netz gestoßen werden und fortan für ihre medizinische Versorgung selbst aufkommen müssen. Eine drastische Senkung der Ausgaben im Gesundheits- und Bildungswesen wurde bereits angekündigt. Die sozialen Kosten müßten den realen Möglichkeiten der Wirtschaft angepaßt werden, ohne Bevormundung und Romantik, sagte ein Sprecher der kommunistischen Partei.

Die Lösung könnte in einem Mix aus privaten, genossenschaftlichen und staatlichen Unternehmen liegen. Einkaufs- und Liefergenossenschaften könnten bei Staatsunternehmen das von den privaten Handwerkern benötigte Material und die Kleinmaschinen erwerben. Allerdings müßten diesen dafür Kredite eingeräumt werden. So könnten Grundbedürfnisse der Bevölkerung gedeckt werden und auch die katastrophale Wohnsituation verbessert werden. Entschließt sich die Regierung Castro zu diesem Schritt, könnte Kuba tatsächlich noch einige Zeit seinen eigenen sozialistischen Weg beschreiten, ohne daß das Volk aufsteht. Noch murrt die Bevölkerung nur. Noch hat die kommunistische Partei die Zügel fest in der Hand.

Foto: Feierabendstimmung in Santiago de Cuba: Die jungen kubanischen  Mädchen beachten die verblassenden Revolutionsplakate schon lange nicht mehr

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