© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/11 14. Januar 2011

Die Tendenzwende bleibt aus
Eine kurze Geschichte der konservativen Intelligenz nach 1945 (VI): Die siebziger Jahre
Karlheinz Weissmann

Der Begriff „Neue Rechte“ wurde seit dem Beginn der sechziger Jahre auch von einigen konservativen Intellektuellen in Deutschland verwendet, aber nicht als Parteiname. Man betrachtete die Bezeichnung „konservativ“ als Abschwächung, vor allem dann, wenn man den Terminus mit anderen zu „kulturkonservativ“, „liberalkonservativ“, „freiheitlich-konservativ“, „wertkonservativ“ zusammenstellte, um Harmlosigkeit zu signalisieren. Arnold Gehlen äußerte sogar einen prinzipiellen Vorbehalt gegen den Rückgriff auf das konservative Erbe und wollte stattdessen Rechts-Sein als eine bestimmte Haltung verstanden wissen, als Ablehnung der vorherrschenden Ideologie und des vorherrschenden Stils. Das erklärt, warum in der wichtigsten konservativen Programmschrift der Nachkriegszeit – Gehlens Buch „Moral und Hypermoral“ (1969) – der Begriff gar nicht auftaucht, sondern die eigene Position als wirklichkeitsbezogene, „realistische“, definiert war.

Ganz so weit wie Gehlen wäre Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Anfang der siebziger Jahre der „Star“ der konservativen Szene, nicht gegangen. Aber in einem Aufsatz „Die neue Rechte – politisch heimatlos“ sprach er ausdrücklich davon, daß es nötig sei, die Konservativen aus der Defensive zu holen, sie zu einer selbstbewußten, auch angriffslustigen „Bewegungspartei“ zu machen. Sein Entwurf einer „neuen Rechten“ stand vor allem in Konkurrenz zu dem einer „neuen“ oder „radikalen Mitte“, den der Philosoph Günter Rohrmoser in seinem Buch „Revolution – unser Schicksal?“ entwickelt hatte. „Aber ist eine Mitte, die sich radikalisiert, noch eine Mitte?“ fragte Kaltenbrunner, „Ist sie nicht, wie die geschichtliche Erfahrung mehr als eines Jahrhunderts lehrt, eher eine Rechte, die gewisse Momente und Motive der extremen Linken in sich aufnimmt?“ Wenn das so sei, folgerte Kaltenbrunner, könne Rohrmoser durchaus noch – ohne es zu wollen – in die Rolle des „Herbert Marcuse einer ‘Neuen Rechten’“ geraten.

Rohrmoser war bis dahin zwar als Kritiker des Marxismus im allgemeinen und der Frankfurter Schule im besonderen hervorgetreten, aber nicht als Konservativer im engeren Sinn. Seine Orientierung an Hegels Geschichtsphilosophie und seine intime Kenntnis der marxistischen Lehre machten ihn auch für die Linke zu einem interessanten Gesprächspartner, die Prägung durch seinen akademischen Lehrer Joachim Ritter führte außerdem zu einer Akzeptanz der Moderne und ihrer Errungenschaften, die Konservativen eher fremd war. Rohrmosers Aufmerksamkeit richtete sich allerdings darauf, die destruktiven Tendenzen der Moderne zu kontrollieren und „aufzuheben“ im Sinne der hegelschen Dialektik. Die Resonanz seiner Argumente war erheblich und wuchs noch angesichts der krisenhaften Zuspitzung der Lage unter dem Eindruck von Terrorismus, Ölkrise und Kollaps der großen linken Reformprojekte.

Als einer, der von außen kam, gehörte Rohrmoser im Grunde zu den Vorläufern der „Tendenzwende“, jener Kehre der Entwicklung, die den meisten wie eine natürliche Reaktion auf die lange Phase linker Dominanz erschien, die aber doch des Anstoßes und einer Parole bedurfte. Daß das die konservative sein würde, war keine Selbstverständlichkeit angesichts der Entwertung des Begriffs. Aber schon im Oktober 1970 hatte ausgerechnet der Liberale Dolf Sternberger in einem Leitartikel der FAZ die Frage gestellt „Darf man heute konservativ sein?“ und mit einem – zögerlichen – „Ja“ beantwortet. Die Signalwirkung war erheblich, und es zeigte sich in der Folge, daß eine ganze Reihe von Befürwortern des Fortschritts ihre Illusionen verloren hatte und an eine Neubestimmung ihrer Position dachte. Diese „Neokonservativen“ – in erster Linie Hermann Lübbe, Odo Marquard, Ernst Topitsch, Karl Steinbuch, Gerhard Szczesny und Thomas Nipperdey – blieben aber im Grunde älteren Vorstellungen verhaftet, glaubten nach wie vor, daß es darum gehe, nur die Auswüchse der Entwicklung zu beschneiden. Das unterschied sie von den Authentisch-Konservativen, die nicht nur eine Kurskorrektur, sondern einen Kurswechsel verlangten.

Zu nennen wäre in dieser Gruppe zuerst die „Schule Hobbes-Schmitt-Gehlen“, von der Mohler sprach, um das Umfeld der 1970 gegründeten Zeitschrift Criticón zu kennzeichnen. Der Herausgeber Caspar von Schrenck-Notzing hatte sich zu dem Zeitpunkt schon einen Namen gemacht als Autor historisch-politischer Analysen über das „Zentraltabu“ der deutschen Zeitgeschichte – die alliierte Reeducation – und die Entstehung der Neuen Linken. Jetzt schuf er mit Criticón ein Forum, das einen möglichst weiten Einzugsbereich haben sollte, um allen konservativen Strömungen einen Spielraum zu eröffnen.

Neben Criticón entstanden in der Folgezeit mehrere andere konservative Zeitschriften von Konservativ heute (evangelisch-nationalkonservativ), über die auflagenstarke Zeitbühne (antikommunistisch-proamerikanisch-europäisch) bis zur Epoche (CSU-nah) und kleinere Blätter, die meistens von Einzelgängern getragen wurden und kurzlebig waren. Keines dieser Organe hatte aber eine der Herderbücherei Initiative vergleichbare Resonanz, die Kaltenbrunner seit 1974 im Zweimonats-, später im Dreimonatsabstand herausgab.

Kaltenbrunner war zu dem Zeitpunkt schon eine Zentralfigur des konservativen Lagers. Seine Stellungnahmen am Ende der sechziger Jahre ließen das nicht unbedingt erwarten, aber nach der Studentenrevolte gehörte er zu denen, die am entschiedensten die Meinung vertraten, daß es nötig sei, ein weltanschauliches „roll back“ durchzuführen: „Wer heute die Begriffe besetzt, übt morgen die Macht aus. Entgegen den Annahmen des klassischen Marxismus geht die Revolutionierung der Gesellschaft nicht allein von der Sphäre der materiellen Produktion aus, sondern auch und zuerst vom ‘ideologischen’ Überbau.“

Eine erste Möglichkeit, die Kulturrevolution von rechts vorzubereiten bot sich Kaltenbrunner 1968 mit der Übernahme des Lektorats bei Rombach, eines Verlags, der auf Publikationen im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften spezialisiert war. Kaltenbrunner betreute das Gesamtprogramm und gründete die Reihe „Rombach Hochschul Paperback“, die in rascher Folge Bücher von Robert Hepp, Kesting, Lübbe, Mohler, Rohrmoser und Sedlmayr veröffentlichte. Er selbst gab zwei große Sammelwerke mit Manifestcharakter heraus: „Rekonstruktion des Konservatismus“ (1972) und „Konservatismus international“ (1973), an denen die Elite der rechten Intelligenz mitgearbeitet hatte. Beide Bände erregten erhebliches öffentliches Aufsehen, von der „Rekonstruktion“ wurden in zwei Monaten mehr als fünftausend Exemplare verkauft.

Allerdings kam es schon 1972 zum Zerwürfnis zwischen Kaltenbrunner und der Verlagsleitung, nachdem sich herausgestellt hatte, daß Hochschullehrer mit Boykott drohten, falls Kaltenbrunner auf seinem Posten bleibe. Das Konzept eines „Anti-Suhrkamp“ scheint auch finanziell nicht aufgegangen zu sein. Kaltenbrunner wechselte daraufhin zu Herder, wo man ihm den Aufbau der „Initiative“ übertrug.

Auch in diesem Fall war die Resonanz groß, schon aufgrund der Bedeutung des wichtigsten katholischen Verlags mit eigenen Buchhandlungen in allen größeren Städten der Bundesrepublik. Tatsächlich gelang es Kaltenbrunner, die Taschenbuchreihe in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre durch kenntnisreiche Einführungen, das eindrucksvolle Spektrum der Mitarbeiter, die umfangreichen Essays, den Wiederabdruck entlegener Quellentexte und ausführliche Bibliographien zu einer konservativen Publikation ersten Ranges zu machen.

Wenn der erste Band der „Initiative“ den Titel „Plädoyer für die Vernunft“ trug, war damit so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner aller Strömungen bezeichnet, die in dieser Zeit auf eine Tendenzwende hofften. Vier Wochen nach seinem Erscheinen, im November 1974, fand auf Initiative des Verlegers Ernst Klett in München ein Kongreß mit dem Thema „Tendenzwende? Zur geistigen Situation der Bundesrepublik“ statt. Bezeichnend war allerdings, daß sich unter den Referenten zwar einige Neokonservative fanden, aber die Authentisch-Konservativen auf die Zuschauerplätze verbannt blieben. Elisa-beth Noelle-Neumann berichtete, sie habe den neben ihr sitzenden Arnold Gehlen gefragt, was er von der „Tendenzwende“ halte, und Gehlen habe nur geantwortet: „Es gibt keine Tendenzwende.“

Den siebten Teil dieser auf insgesamt acht Folgen angelegten JF-Serie des Historikers Karlheinz Weißmann lesen Sie kommende Woche in der JF-Ausgabe 4/11.

Foto: Nährboden: Spielraum für alle konservativen Strömungen

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen