© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

Jede Menge gute Absichten
Frankreich: Ein schmales Büchlein sorgt für Furore
Alain de Benoist

Eine solche Sensation hat die Verlagswelt selten erlebt: Mit einer Länge von unter dreißig Seiten (24, um genau zu sein) kann man Stéphane Hessels Titel „Indignez-vous!“ – zu deutsch: „Empört euch! – Regt euch auf!“ – kaum als Großessay bezeichnen, geschweige denn als Buch. Erschienen ist er in einem so gut wie unbekannten Verlag namens Indigène, den zwei Ex-Journalisten im südfranzösischen Montpellier gegründet haben. Bei einem Stückpreis von drei Euro gingen in einem Monat 100.000 Exemplare über den Ladentisch, dann 200.000, 500.000, 800.000. Inzwischen hat sich das Büchlein bald eine Million Mal verkauft. Was macht seinen Erfolg aus? Keiner weiß es.

Wer ist Stéphane Hessel? Die Medien stellen ihn gerne als „Jahrhundertzeugen“ dar. Er wurde 1917 in Berlin geboren, die Mutter stammte aus einer preußisch-protestantischen Bankiersfamilie, sein Vater war der polnisch-jüdische Schriftsteller Franz Hessel, der im Getreidehandel ein Vermögen gemacht hatte. Die Familie wanderte 1925 nach Frankreich aus, 1937 wurde Hessel dort eingebürgert. Er studierte bei Jean-Paul Sartre an der renommierten  Ecole normale supérieure, schloß sich während der deutschen Besatzung nach erfolgreicher Flucht aus der Haft der Résistance an und gehörte zur Exilregierung Charles de Gaulles in London. Bei einem Untergrundeinsatz in Frankreich wurde er im Juli 1944 erneut verhaftet und nach Deutschland verschleppt. Er saß erst in Buchenwald, dann in Dora ein, bevor er beim Transport nach Bergen-Belsen ein zweites Mal entkommen konnte.

Nach dem Krieg schlug Hessel eine diplomatische Laufbahn ein, war zunächst französischer Botschafter in China und ab 1948 als Sekretär der Internationalen Menschenrechtskommission an der Verfassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt. Als François Mitterrand 1981 Präsident wurde, verlieh er ihm den Ehrentitel eines Botschafters für Frankreich.

Was sagt dieser Mann also in seinem aufsehenerregenden Buch? Mittlerweile ein Greis von 93 Jahren, fordert er, daß man sich empöre. Warum? Nun, heutzutage gibt es wahrhaftig genügend Gründe zur Aufregung: Hungersnöte in aller Welt, Terrorismus, die Plünderung unseres Planeten, das Schicksal der „papierlosen“ illegalen Einwanderer, die wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen, die Diktatur der Finanzmärkte, die Unterwürfigkeit der Massenmedien, den gnadenlosen Wettbewerb und die Jagd nach dem Geld. Auch der Abbau der Sozialleistungen durch Nicolas Sarkozys neoliberalen Regierungskurs raubt Hessel den Schlaf.

Ja, und weiter? Nichts weiter. Jede Menge gute Absichten, Platitüden und Allgemeinplätze. Zwei Dutzend Seiten, die schnell gelesen und schnell vergessen sind. Nichtssagende Floskeln, aus denen sich schwerlich ein logisches Argument stricken läßt, geschweige denn eine Doktrin. Das eigentlich Erstaunliche an dieser Lektüre ist, daß ihr Aussagegehalt gleich Null ist. Gewiß wird man diesem Katalog gutmenschlichen Gedankenguts zumindest in Teilen zustimmen müssen. Doch Hessels „Empörung“ geht mit keiner einzigen konstruktiven Forderung einher. Er begnügt sich damit, sämtliche Ungerechtigkeiten, ja „Unerträglichkeiten“ dieser Welt zu monieren – und dann schweigt er.

Das wird ihm durchaus zum Vorwurf gemacht. Zwar mag der Philosoph und Altlinke Régis Debray ihn als „Ehrenretter“ der Nation feiern, andere Urteile fallen weniger gnädig aus. „Empörten Menschen mißtraue ich wie der Pest“, empört sich der ehemalige Bildungsminister Luc Ferry. „Empörung ist keine Tugend, sondern ein Mittel, es sich einfach zu machen.“ Ministerpräsident François Fillon sekundiert: „Empörung um der Empörung willen führt zu nichts.“

In Wirklichkeit aber schlagen die Wellen vor allem deswegen so hoch, weil Hessel sich als gebürtiger Halbjude mit deutlichen Wortmeldungen zugunsten der Palästinenser unbeliebt gemacht hat. Er ist Mitglied des Russell-Tribunals für Palästina und unterstützt eine Boykottkampagne gegen israelische Produkte aus den besetzten Gebieten. Vor zwei Jahren, im Januar 2009, kommentierte er die israelische Offensive im Gazastreifen mit der Aussage: „Das richtige Wort dafür ist Kriegsverbrechen oder sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Jüngst ist er zweimal nach Gaza gereist, um sich mit hochrangigen Hamas-Vertretern zu treffen. „Die Verbrechen der israelischen Regierung bleiben vollkommen ungestraft“, empörte er sich. „Dabei wären internationale Sanktionen durchaus denkbar.“ Auch in seinem Büchlein spielt die Lage in Palästina eine Hauptrolle im Reigen der Aufreger. Derlei „umstrittene“ Positionen hat ihm die proisraelische Lobby in Frankreich nicht verziehen.

Stéphane Hessel trat 1986 in die Sozialistische Partei ein, hat sich aber in letzter Zeit den Grünen angenähert. 2009 machte er an der Seite des Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit und des Anti-Globalisierungsaktivisten José Bové Wahlkampf für die Listen der Umweltschützer von Europe-Ecologie. Man kann ihn wohl als Sozialdemokraten bezeichnen, als einen jener Linken, die sich aus Prinzip der Einsicht verweigern, daß die Welt unvollkommen und der Mensch ein Mängelwesen ist, und wie die alttestamentarischen Propheten sämtliche Übel anprangern, ohne jemals konkrete Vorschläge zu ihrer Beseitigung zu machen.

In Deutschland verkaufte Thilo Sarrazin über eine Million Exemplare eines Buches „Deutschland schafft sich ab“, von dem man halten kann, was man will – zumindest hat es eine Aussage. In Frankreich war Stéphane Hessel ebenso erfolgreich mit einem „Buch“, das kaum als solches zu bezeichnen und zudem praktisch inhaltsleer ist.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle École“ und „Krisis“.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen