© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

Die große Ernüchterung
Eine kurze Geschichte der konservativen Intelligenz nach 1945 (VII): Die achtziger Jahre
Karlheinz Weissmann

Arnold Gehlens tiefer Pessimismus kam auch in seinem letzten Buch zum Ausdruck, das 1976 unter dem Titel „Einblicke“ erschien: „Man kann seine Würde behalten, wenn man das stützt, was über Wasser gehalten werden muß, ich meine die historische und die gesellschaftliche Tradition, denn sonst sind wir Opportunisten, und dazu armlose. Wir haben auch noch Zähigkeit nötig, und nicht zuletzt eine endlose Geduld in der auszehrendsten und zweideutigsten, ja verlogensten Kultur, die es je gab, in der die drängelnden Karrieremacher reihenweise ins Nichts versinken. Und endlich Wachsamkeit, denn die Barbaren sind mitten unter uns. Das ist es, was ich zu sehen glaube und zu sagen verantworten kann.“

Diese Einschätzung war unendlich weit entfernt von dem, was Gehlen als Parteigänger der „Konservativen Revolution“ erwartet hatte. Sie hatte aber auch keine Ähnlichkeit mehr mit seiner Abgeklärtheit in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten, als er – ähnlich wie sein Lehrer Freyer, ähnlich wie sein Schüler Schelsky oder der Staatsrechtler Forsthoff – meinte, daß die technische Zivilisation als solche jene Stabilität produziere, die die politische Ordnung aus sich selbst nicht mehr hervorzubringen vermöchte, daß wirtschaftliches Interesse und Sachzwang – wenngleich in einem Posthistoire – eine genügsame, vor Überraschungen unliebsamer Art, also der Geschichte, geschützte Existenz ermöglichen würden, die immerhin noch individuelle Entfaltung erlaubte.

Man hat dieses Konzept nicht ganz zu Unrecht als „technokratischen Konservatismus“ bezeichnet und eine Verbindung mit Tendenzen der Naturwissenschaft hergestellt, deren Ergebnisse die skeptische Anthropologie der Konservativen von seiten der Verhaltensforschung, der Genetik und Psychologie stützten. Forscher wie Konrad Lorenz, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Ilse Schwidetzky, Robert Ardrey, Arthur Jensen oder Peter Hofstätter äußerten sich zwar nicht in unmittelbarem Sinn politisch, aber ihren Arbeiten war doch eine Weltsicht und ein Menschenbild zu entnehmen, die jede Utopie, jede Annahme vollständiger Sozialisierbarkeit in Frage stellte. Insofern gab es durchaus Grund für die Befürchtung von Habermas, daß ein „im Dreieck Carl Schmitt, Konrad Lorenz, Arnold Gehlen entwickelter Institutionalismus (…) leicht (…) Breitenglaubwürdigkeit“ hätte erlangen können.

Wenn es dazu nicht kam, lag das weniger an der fehlenden Plausibilität entsprechender Argumente, eher an dem Unwillen, diese zur Kenntnis zu nehmen, sich mit unangenehmen Wahrheiten auseinanderzusetzen. Ein Sachverhalt, über den sich die Konservativen lange täuschten, weil sie glaubten, daß der „Ernstfall“ – ein Schlüsselbegriff in der konservativen Debatte der siebziger Jahre – die Verhältnisse so oder so zu ihren Gunsten verändern werde.

Als die Parusie ausblieb, hoffte man zumindest noch auf die „geistig-moralische Wende“, eine Art Tendenzwende im Rahmen des parteipolitisch Machbaren, die der Kaltenbrunner lesende und von Rohrmoser beratene Kanzler Helmut Kohl versprochen hatte. Als auch die nicht kam, trotz des Regierungswechsels zur schwarz-gelben Koalition 1982, tröstete man sich zuletzt mit dem Hinweis auf den fatalen Einfluß der FDP und dem Gewicht, das Repräsentanten des konservativen Parteiflügels nach wie vor zukam (Alfred Dregger, Heinrich Windelen, Franz Josef Strauß etc.).

Die Linke und der liberale Mainstream hatten Kohl zwar nie mit der gleichen Heftigkeit bekämpft wie Strauß, fürchteten aber durchaus, daß der „schwarze Riese“ eine Gegenreform einleiten werde. Dementsprechend scharf reagierte man auf jeden Hinweis, daß die spöttisch „Gemowe“ genannte „geistig-moralische Wende“ doch noch stattfinde. Tatsächlich hat Kohl aber nach kurzer Sondierung alle entsprechenden Vorstöße eingestellt. Seine Kritiker beruhigten sich über „die Wende, die keine war“ (Habermas), seine Berater – allen voran Heiner Geißler – überzeugten ihn von der Notwendigkeit, auf „weiche Themen“ (Frauen, Soziales, Umwelt) zu setzen, und der Einfluß, den Männer wie Rohrmoser vorübergehend nehmen konnten, schwand.

Der Anpassungskurs der CDU förderte zwar die Akzeptanz in den meinungsbildenden Kreisen der Republik, verstörte aber die eigene Anhängerschaft. Jedenfalls sank der Stimmenanteil der Union kontinuierlich. 1985 konnte Rohrmoser nach der vernichtenden Niederlage bei der Landtagswahl in Nord-rhein-Westfalen von einem „Debakel“ sprechen, Konsequenz der Tatsache, daß „aus einem taktischen, situationsbezogenen Opportunismus ein prinzipieller Opportunismus“ geworden war.

Sicher hat Rohrmoser die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker aus Anlaß des vierzigsten Jahrestags des Kriegsendes als Bestätigung seiner Sorge betrachtet. Denn daß ausgerechnet ein Repräsentant des bürgerlichen Lagers vom 8. Mai als einem „Tag der Befreiung“ sprechen würde, löste unter Konservativen helle Empörung aus. Tatsächlich markierte Weizsäckers Ansprache aber nur eine weitere geschichtspolitische Niederlage, die die Konservativen seit dem Skandal um Hellmut Diwalds „Geschichte der Deutschen“ (1978) und dem Zank um den Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg durch Kohl und US-Präsident Reagan (1985) hatten hinnehmen müssen.

Gleichzeitig war deutlich geworden, daß die linke Deutung der Vergangenheit kaum noch auf Widerstand traf, was dann die Konsequenzen des „Historikerstreits“ (1986ff.) genauso erklärte wie den Frontverlauf bei der Auseinandersetzung um die Anti-Wehrmachtsausstellung (1995ff.). Die Konservativen sahen sich nicht nur in der Minderheit, sondern auch isoliert, ohne Alliierte im bürgerlichen Lager. Bestenfalls konnte man auf die „schweigende Mehrheit“ hoffen.

Es hat vor allem die Härte dieses Kulturkampfs zu einer neuen Lageeinschätzung der Konservativen geführt, die durch zwei Gesichtspunkte gekennzeichnet war: die Aufkündigung des Burgfriedens mit der Union und die entschlossene Hinwendung zur nationalen Frage. Was den ersten Punkt betrifft, wird man die Gründung der Partei „Die Republikaner“ 1983 als wichtige Markierung zu betrachten haben, die aus einer Abspaltung der CSU hervorging und ursprünglich den Plan verfolgte, die immer wieder diskutierte bundesweite Ausdehnung der Christlich-Sozialen oder einer selbständigen „Vierten Partei“ in die Tat umzusetzen.

Ihre teilweise überraschenden Erfolge auf regionaler Ebene verdankten die Republikaner nicht nur der Konzentration auf wenige Programmpunkte – vor allem die innere Sicherheit und die Abwehr des Massenandrangs von Asylsuchenden –, sondern auch der Tatsache, daß sie in dem ehemaligen Fernsehjournalisten Franz Schönhuber einen Volkstribunen an der Spitze hatten, der in der Lage zu sein schien, in der Bundesrepublik den Erfolg ausländischer rechtspopulistischer Parteien zu wiederholen. Daß es ihm außerdem gelang, einige der führenden Köpfe der Konservativen als Berater zu gewinnen, sprach sogar dafür, daß die Republikaner letztlich zur politischen Heimat dieses Meinungslagers werden würden.

Der Grund für die Unterstützung, die neben Mohler und Robert Hepp vor allem Diwald dem Projekt der Republikaner leistete, hatte ihre Ursache auch in deren Widerwillen gegen die Politik der Westbindung und die Praxis, die „Deutsche Frage“ zwar theoretisch „offenzuhalten“, aber die Beantwortung praktisch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu vertagen. Seit dem Ende der siebziger Jahre war die „Renationalisierung“ der Konservativen im Gang, wurden nicht nur ältere Konzepte wie Neutralität oder ein zweites Rapallo neu diskutiert, sondern auch Impulse aufgenommen, die einigen Überläufern aus dem linken Lager zu verdanken waren. Jedenfalls wirkten die Essays eines Günter Maschke und das Buch „Die deutsche Nation. Theorie – Lage – Zukunft“ (1982) des Philosophen Bernard Willms ausgesprochen belebend auf die Diskussion, gerade wegen der Unverfrorenheit, mit der diese Männer argumentierten, die sich noch nicht daran gewöhnt hatten, Sprachregelungen zu akzeptieren oder nur aus der Defensive zu argumentieren.

In einem Text von Willms hieß es 1985 prophetisch: „Nationalbewußtsein, nationaler Wille, Wachsamkeit und das Bestehen auf Rechtspositionen sind die Voraussetzungen für das Ausnutzen von Chancen, die sich aus jeder Veränderung der Machtkonstellation etwa in Osteuropa ergeben können“, und er endete wie immer mit seinem „Ceterum censeo Germaniam esse restituendam“.

Den achten und letzten Teil dieser JF-Serie des Historikers Karlheinz Weißmann lesen Sie kommende Woche in der JF-Ausgabe 5/11.

Foto: Überwuchert: Hoffnungen auf eine vor der Geschichte geschützte Existenz, die immerhin noch individuelle Entfaltung erlauben würde

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