© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

Glasnost vor Perestroika
Sarrazin-Debatte: Kubitschek und Kissler
Richard Stoltz

Thilo Sarrazin hat den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht“, resümierte der Verleger Götz Kubitschek am 17. Januar auf einer Podiumsdiskussion seiner Zeitschrift Sezession im Münchner Kulturzentrum Gasteig. Er habe das Programm für eine Perestroika in Deutschland skizziert, ohne daß vorher die dafür notwendige Glasnost (Offenheit und Transparenz) eingeleitet worden wäre. Kubitschek diskutierte vor etwa hundert Zuhörern im vollbesetzten Saal mit dem Kulturjournalisten Alexander Kissler (Focus, The European) über „Deutschland schafft sich ab“.

Von Glasnost und Perestroika spricht Sarrazin mittlerweile selbst. Kissler betonte, Sarrazin wolle mit solchen bedeutungsschweren historischen Vergleichen zum einen ein Geschichtszeichen setzen. Zum anderen bleibe er aber seiner nüchternen volkswirtschaftlichen Betrachtung verhaftet und sei „ein rechter Rhetoriker mit linken Agenden“. In seinen Lösungsansätzen für die demographische Misere, Bildungs- und Integrationspolitik argumentiere dieser typisch sozialdemokratisch und setze auf den Staat als Allheilmittel. Kubitschek wandte ein, bevor diese Detailfragen zur Aufgabe des Staates geklärt werden könnten, müsse zunächst die erste, eigentlich selbstverständliche Frage beantwortet werden: Warum löst die tabulose Beschreibung der Alltagswirklichkeit in Deutschland hysterische Reaktionen der politischen Klasse aus?

Die Diskussion über das Buchereignis des Jahres 2010 näherte sich aus diesem Grund intensiv der Frage, welche Dämme im Meinungskampf durch die Debatte gebrochen sind. Kubitschek sagte: „Die Skandalisierung durch Medien und Politik ist fehlgeschlagen, weil die Bürger die Thesen von Sarrazin durch die täglich erfahrbare Lebenswirklichkeit bestätigt sehen. Das ist das Bedeutungsvolle an der Debatte der letzten Monate.“ Er war sich mit Alexander Kissler darin einig, daß Sarrazin begriffen habe, wie schwierig es sei, bisher tabuisierte Themen wie die Integrationsunfähigkeit von muslimischen Einwanderergruppen öffentlich anzusprechen.

Auch die Veranstaltung im Gasteig unter dem Motto „Sarrazin lesen. Völlig inakzeptabel oder Die lange verschwiegene Wahrheit“? geriet im Vorfeld in die Kritik, weil sie die Grenzen des Sagbaren in Frage stellte. Die Antifa München diffamierte die Podiumsteilnehmer auf ihrer Internetseite als „extrem rechts“. Dennoch verlief die Debatte ohne Störungen. Ein Stück Normalität also.

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