© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

Freiheit und Vielfalt
Die gute Ordnung
von Michael von Prollius

Freiheit ist die Voraussetzung für Vielfalt. Freiheit und Vielfalt waren die Erfolgsgrundlagen des Westens, der sich dadurch von anderen Regionen der Erde abhob. Freiheit und Vielfalt sind in beträchtlichem Maße gewachsen und werden erneut von alten Gefahren bedroht. Freiheit bedeutet – mit einem der erfrischendsten politischen Denker unserer Zeit, dem ungarischen Philosophen Anthony de Jasay – zu handeln, in dem man seine Rechte unter Beachtung der Pflichten beansprucht.

Freiheit ist stets individuelle Freiheit. Das liegt auch daran, daß Kollektive lediglich Konstruktionen sind – künstliche, gegebenenfalls nützliche Aggregate, aber kein Endzweck. Individuelle Freiheit ist tatsächlich alternativlos, weil ihre Aufrechterhaltung dem einzelnen Menschen größtmöglichen Schutz bietet. Zugleich ist sie Voraussetzung für individuelle Vielfalt oder die proportionierlichste Bildung der Kräfte des einzelnen zu einem Ganzen, um Wilhelm von Humboldts Maxime zu bemühen. Und diese Vielfalt entsteht gerade im Austausch mit anderen.

Freiheit wurzelt in der Sphäre außerhalb des Staates und der Regierungen. Freiheit ist vorstaatlich. Der Staat hat die Aufgabe, bestimmte Dienstleistungen zu erbringen, darunter an allererster Stelle den Schutz von Leib, Leben und Eigentum. Das ist zugleich seine – noch relativ junge – Existenzberechtigung. Die Gruppe Menschen, die wir mit dem Begriff „Staat“ kennzeichnen, handeln weder moralischer noch gerechter oder klüger als die Menschen, die nicht zum Staat zählen. Der Heiligenschein altruistischer Selbstaufopferung sogenannter Staatsdiener ist allzu offensichtlich eine scheinheilige Behauptung. Die meisten Menschen gehen in den Staatsdienst, weil sie dort besser bezahlt werden als in der freien Wirtschaft und eine vergleichsweise sichere und leichte Arbeit verrichten. Die meisten Begründungen für die Existenzberechtigung des Staates öffnen den Handlungsspielraum für die Willkür derjenigen, die im Besitz der Staatsmacht sind. Allein deshalb sollte dem Staat kein Dienstleistungsmonopol eingeräumt werden.

Für den großen katholischen Liberalen des 19. Jahrhunderts Lord Acton galt bekanntlich, daß Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert. Acton sah Freiheit als Ehrfurcht vor dem Gewissen an, er bezeichnet sie sogar als Herrschaft des Gewissens. Das Freiheitsprinzip fordere zu seiner Durchsetzung eine Beschränkung der Staatsmacht; „denn die Freiheit ist das einzige Gut, das allen in gleichem Maße nützt und keinen ernst gemeinten Widerstand hervorruft“. Stets darf die Macht über Menschen nur dazu dienen, die Vielfalt der Glücks- und Wohlfahrtsvorstellungen verschiedener Menschen nebeneinander bestehen zu lassen.

Kritiker werfen Freiheitsfreunden vor, daß sie Selbstsucht förderten. Tatsächlich wird Selbstsucht gerade durch die Selbstsucht des anderen beschränkt. Es kommt nur zum Tausch, wenn beide Tauschpartner einen Vorteil erlangen. Soziales Handeln findet seine Grenzen in den Interessen und Konventionen der Mitmenschen. Wird jedem seine Freiheit belassen, so müssen beide ihre Selbstsucht dem gemeinsamen Interesse unterordnen – aus freien Stücken. Das gilt gerade auch, weil Individuen eingebunden sind in ihre Familie, den Kreis von Freunden und Bekannten, die Nachbarschaft und die Gemeinde.

Die Folge dieser Kooperation ist sich entfaltende Kreativität. Die Resultate können wir heute nahezu überall betrachten, auch wenn vieles allzu selbstverständlich geworden ist. Auffällig ist zunächst die unglaubliche Vielfalt der Güter und Dienstleistungen. Sie erlauben uns ein besseres, ein gesünderes und froheres Leben zu führen, auch wenn die Wahl zur Qual werden kann und zuweilen nicht ohne Reue bleibt. Dazu gehören bahnbrechende medizinische Entwicklungen sowie die Qualität und Vielfalt verfügbarer Lebensmittel im Vergleich zum Jahr 1900 oder gar 1700. Mobiles Telefonieren ist längst für jedermann bezahlbar. Ein einzelnes Musikstück kann heute im Internet nahezu jederzeit und überall erworben werden. Im Multimediabereich hat sich eine Vernetzungs- und damit Wissensrevolution vollzogen, deren Träger das Internet und darin enthaltene soziale Dienste wie Facebook sind.

Vielfalt fördert Freiheit. Im Mittelpunkt stehen Frieden und Freihandel. Wer mit Menschen anderer Regionen zusammenkommt, läßt sich regelmäßig nicht einreden, man müsse diese Menschen beherrschen, berauben, gar töten oder ihr Territorium in Besitz nehmen. Mit Montesquieu: „Der Handel glättet und besänftigt die Sitten der Barbarei.“ Wer gerne ins Ausland reist und dort etwa eine Region schätzt, der mag nicht nur die Landschaft, sondern in der Regel auch die Menschen. Wer wie Reinhold Messner in einem engen Tal aufgewachsen ist und die Möglichkeit hatte, seinen Horizont zu erweitern, der schätzt die gewonnene Freiheit. Es handelt sich um ein zeitloses Phänomen wie das Beispiel von Vermeers Hut zeigt, der aus kanadischen Biberpelzen gefertigt wurde, weil sich für Biberhüte im 16. Jahrhundert ein Hutmarkt zu entwickeln begann. Vielfalt, darunter vielseitige Kontakte und Sichtweisen, befördert Vielfalt. In der Regel sind es Kriege, die Vielfalt und Freiheit ein Ende setzen, darunter die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

Freiheit und Vielfalt sind Erfolgsgrundlagen des Westens. Die Geschichte Europas läßt sich als Geschichte der Freiheit erzählen. Sie beruht auf Machtdezentralisation, Eigentums- und Persönlichkeitsrechten und der Herrschaft des Rechts. Am Anfang steht die Reform Solons von Athen, der im 6. Jahrhundert vor Christus die Isonomia etablierte, die Gleichheit der Vollbürger. Der griechischen Antike verdanken wir die „Rule of law“ anstelle einer „Rule of men“. Die Römer fügten das Privateigentum und die Privatperson hinzu. Im Mittelalter setzte die päpstliche Revolution säkularer Herrschaft Grenzen. Seit den demokratischen Reformen und Revolutionen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert unterscheidet sich der Westen, der vor allem Europa ist, in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft durch das Streben nach der Verwirklichung einer spontanen gesellschaftlichen Ordnung, einer Ordnung der Vielfalt und Freiheit. Der Staat ist nur dann legitim, „wenn er nicht länger einen Absolutheitsanspruch erhebt und wenn er sich mit einem instrumentellen Status zufriedengibt. Das ist die Grundlage der Demokratie“, betont der französische Philosoph Philippe Nemo.

Freiheit bedeutet Unterschiedlichkeit anzuerkennen. Verschiedenheit öffnet Handlungsspielräume und neue Kombinationsmöglichkeiten. Ein Such- und Irrtumsprozeß setzt ein, der auf Ungleichheit und Unsicherheit beruht. Bei weitreichender Gleichheit und Entscheidungssicherheit gibt es kaum noch etwas zu entdecken. Wer weiß wie komplex, unsicher und ungeplant der Herstellungsprozeß eines einfachen Bleistifts ist? Leonard Read schildert das unnachahmlich in seiner berühmten Geschichte „Ich, der Bleistift“, die im Internet verfügbar ist.

Vielfalt stärkt Freiheit durch Dezentralität, Macht wird durch Konkurrenz eingehegt. In ökonomischer Hinsicht gilt: Der Markt ist ein Gewinn- und Verlustsystem, das sich tatsächlich selbst reguliert, wenn die Konsumenten den Ton angeben dürfen. Machtballung bedroht Freiheit und Vielfalt, häufig erklärtermaßen in guter Absicht. Das gilt primär für hoheitliche Macht, denn wirtschaftliche Macht kann anders als das staatliche Monopol herausgefordert werden. Folglich hat Kleinstaaterei gewichtige Vorteile, zumal die Wohlfahrt des einzelnen wie einer Nation nichts mit Größe zu tun haben.

Die Kette prosperierender Kleinstaaten reicht in der Geschichte von der Polis Athen über Venedig und Holland bis zu Hongkong, Luxemburg und Monaco. Handel findet nicht zwischen Nationen, sondern Menschen statt. Nationen besitzen nichts, nur Individuen tun dies. Europa war vor allem Vielfalt: Vielfalt der Kulturen, Sprachen, Mentalitäten, Lebens- und Wirtschaftsweisen. Die aktuellen Forderungen nach mehr Zentralismus, und sei es in Form einer Wirtschaftsregierung, bedrohen Vielfalt und Freiheit.

Die Flucht in den Zentralismus erfolgt regelmäßig, um politischen Mißerfolg zu kaschieren, von Machterwägungen einmal abgesehen. Besser ist es, das Problem an die darunter liegende Ebene zurückzuverweisen. Im EU-Zentralismus ist die Bürokratisierung des gerade herrschenden Irrtums vorprogrammiert – absehbares Ergebnis: Einfalt statt Vielfalt. Das gilt um so mehr, als es keine Aufsicht für die Aufsicht gibt. Immer höher delegieren bedeutet, sich immer weiter von den Sphären zu entfernen, in denen die Menschen leben.

Die Französische Revolution hat die despotischen Folgen eines revolutionären Zentralismus offenbart – genauso wie eine auf Gleichheit gestützte Eliminierung aller Traditionen. Heute lauten die Schlagworte einer schleichenden Revolution: Gender Mainstreaming, Anti-Familienpolitik im Namen der Familien, Anti-Diskriminierung und Zerstörung des Privateigentums. Demokratie ist leider kein Anwalt der Freiheit, zumal in der praktizierten Form der Schacherdemokratie. Mehrheiten sind keine Wahrheiten. „Keine Macht von Menschen über Menschen“ sollte die Parole des 21. Jahrhunderts sein.

Zu den Gefahren, die derzeit die Freiheit bedrohen, zählen nicht zuletzt die politischen Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise. Das Grundübel liegt jedoch im staatlich beherrschten Kredit- und Geldsystem. Das Staatsgeldsystem verursacht zwangsläufig Wirtschaftskrisen. Es existiert, weil die Regierungen für Kriege und Wohlfahrtsausgaben nicht genug Kredit bekommen. Eine falsche Krisendiagnose läßt vermeintliche Rettungsmaßnahmen lediglich die Krisenursachen vergrößern: mehr Kredit, mehr Geld, mehr Schulden, mehr Regulierung, mehr Umverteilung vom Steuerzahler auf am Markt gescheiterte Unternehmen, Investoren und Regierungen.

Gleichwohl gibt es allen Grund, optimistisch zu bleiben. Die Welt wird immer  lebenswerter. Selbst die Statistik zeigt für weite Teile der Welt eindeutig: Daumen hoch. Interventionismus wirft Menschen allenfalls zeitlich befristet zurück. Um so schlimmer für diejenigen, die darunter leiden müssen. Es ist Zeit, sich wieder die grundlegende Einsicht der Freunde der Freiheit des 18. und 19. Jahrhunderts vor Augen zu führen: eine Gesellschaft kann sich im großen und ganzen selbst regeln. Eine gute Ordnung entsteht zuallererst durch menschliches Handeln, das ungeplant Traditionen als Regelsysteme ausbildet, aber nicht durch menschlichen Entwurf. Vertrauen wir also der unsichtbaren Hände vieler statt der starken Hand des stumpfen Hirns weniger. Bereits die Aufhebung aller Systeme der Förderung und Beschränkung wird dazu führen, daß sich das natürliche System der Freiheit von selbst einstellt. Die Sehnsucht nach Freiheit, Schönheit, Gemeinschaft, Individualität, Verwurzelung und Geborgenheit statt dem Mythos politischer Machbarkeit ist unübersehbar.

 

Dr. Michael von Prollius, Jahrgang 1969, Wirtschaftshistoriker, gründete das Forum Ordnungspolitik, leitet den Wissenschaftskreis der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft und ist als Senior Fellow beim Berlin Manhattan Institut tätig.

Michael von Prollius (Hg.): Kleines Lesebuch über die Verfassung der Freiheit, liberal Verlag, Berlin 2008. Das Buch enthält Schlüsseltexte von Vordenkern der Freiheit aus allen Epochen der Geistesgeschichte – von Solon bis Michael van Notten.

Foto: Fraktalkunst: Die gute Ordnung ist vielfältig – sie entsteht spontan durch die Kreativkräfte der Freiheit

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