© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

Kampf um das Mandat des Himmels
„Viererbande“ oder Pragmatismus: Vor 35 Jahren wurden die Weichen der Volksrepublik China auf den heutigen Kurs gestellt
Peter Kuntze

Mit bangen Gefühlen sah die überwiegende Mehrheit der Chinesen dem Jahr 1976 entgegen. Zhou Enlai, 78 Jahre alt und seit 1949 Ministerpräsident der Volksrepublik, lag, unheilbar an Krebs erkrankt, in einer Pekinger Spezialklinik, während der 82jährige Mao Zedong, gefürchtet und verehrt wie einst die Kaiser, an Parkinson litt, sich kaum mehr artikulieren konnte und nur noch ganz selten öffentlich auftrat. Jeder wußte vor 35 Jahren mithin, daß einschneidende Veränderungen bevorstanden, doch niemand hatte eine Ahnung, in welche Richtung die Entwicklung gehen würde: Sollte sich doch noch einmal Deng Xiaoping durchsetzen, oder würden die radikalen Linken obsiegen?

Im Schatten der beiden jetzt sterbenskranken Erbauer des neuen China hatte sich in den vergangenen Jahren eine ultralinke Gruppe, angeführt von Maos Ehefrau Jiang Qing, immer mehr in den Vordergrund gespielt. Sie schien nur darauf zu lauern, im günstigsten Augenblick die greifbar nahe Macht an sich zu reißen. Entscheidender Widerpart dieser insgeheim als „Viererbande“ apostrophierten Clique war der damals 71jährige Deng Xiaoping. Der stellvertretende Partei- und Regierungschef war zu Beginn der Kulturrevolution als „Renegat und konterrevolutionärer Revisionist“ von Mao entmachtet worden und hatte sieben Jahre unter demütigenden Bedingungen in seiner Heimatprovinz Sichuan verbringen müssen. 1973 rehabilitiert, kritisierte er sofort viele Ergebnisse der Kulturrevolution, besonders das desolate Bildungssystem, und entfachte, wie es von seiten der Linken hieß, erneut einen „Wind von rechts“. Da ein weiterer Machtkampf unausweichlich zu sein schien, lag eine Atmosphäre beklommener Lähmung und furchtsamer Erwartung über dem Land.

Der erste Schicksalsschlag kam noch vor Beginn des traditionellen chinesischen Neujahrsfestes: Am 8. Januar erlag Zhou Enlai seinem schweren Leiden. Die Trauer war allseits groß, denn wegen seines bescheidenen Auftretens und seiner stets auf Ausgleich bedachten Politik hatte der Sproß eines uralten Mandarin-Geschlechts stets hohes Ansehen genossen.

Als Regierungschef der ersten Stunde, der von 1949 bis 1958 zusätzlich als Außenminister fungierte, war es Zhou, einem der bedeutendsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts, gelungen, die von den USA betriebene internationale Isolierung zu durchbrechen. Seine größten Erfolge waren die Aufnahme der Volksrepublik in die Uno (1971) sowie der von ihm zusammen mit Henry Kissinger eingefädelte China-Besuch Präsident Nixons (1972). Der Abschied vom „Meisterdiplomaten im Mao-Look“ dauerte mehrere Tage, bis in Erfüllung seines letzten Willens Zhous Asche von einem Flugzeug aus über die Provinzen des Landes verstreut wurde.

Hinter den Mauern von Zhong­nanhai, dem Pekinger Regierungsbezirk, ging der Machtkampf unterdessen weiter. Im März verkündeten die offiziellen Parteiblätter, Mao Zedong habe Deng Xiaoping ein weiteres Mal scharf gerügt. „Dieser Mensch packt den Klassenkampf nicht an. Also noch immer ‘weiße Katze, schwarze Katze’“, soll der greise KP-Chef geurteilt haben. Das war eine deutliche Anspielung auf Dengs pragmatische Devise, mit der dieser schon vor der Kulturrevolution im Gegensatz zu den Linken den Schwerpunkt auf die ökonomische Weiterentwicklung hatte legen wollen: „Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache, sie fängt Mäuse.“ Dengs zweite Entmachtung schien somit unmittelbar bevorzustehen. Und in der Tat: Kaum einen Monat später war es soweit.

Am 4. April, anläßlich des Qingming-Festes, des chinesischen Totensonntags, versammelten sich Hunderttausende vor dem Heldendenkmal auf dem Tiananmen-Platz, um Zhou Enlais zu gedenken. Die Mehrheit indes machte aus der Trauerkundgebung eine politische Demonstration zugunsten Deng Xiaopings und gegen die im Volk verhaßte „Viererbande“. Der Zorn galt besonders Jiang Qing, die vielen als zweite Ci Xi, die als „Hexe“ verpönte Witwe des letzten Kaisers, galt. Ihr wurde vorgeworfen, Mao zu manipulieren und seine Weisungen zugunsten ihrer Anhänger zu verfälschen – offenbar mit Erfolg: Noch am Abend des 4. April wurde Deng all seiner Ämter enthoben.

Der nächste Schlag des Unheilsjahres 1976 kam am 6. Juli: Marschall Zhu Deh, Gründer und langjähriger Oberbefehlshaber der Volksbefreiungsarmee, der zuletzt auch das Amt des Staatsoberhauptes bekleidet hatte, starb im Alter von 90 Jahren. In den nächsten Tagen schien es zumindest den Abergläubigen gewiß zu sein, daß China vor einer Zeitenwende stand, denn nun waren auch die Zeichen des Himmels eindeutig: Überschwemmungen, Dürren und Erdbeben, die weite Gebiete des Landes heimsuchten, zeigten an, daß die Mächtigen ihr göttliches Mandat offensichtlich verspielt hatten. Am verheerendsten war das Erdbeben von Tangschan. Innerhalb von Sekunden zerstörte das Beben der Stärke 7,8 am 28. Juli nachts um 3.42 Uhr die nördlich von Peking gelegene Stadt. Mindestens 240.000 Menschen kamen ums Leben, rund 160.000 wurden verletzt. Noch 34 Jahre später, im August 2010, erschüttterte der Film „Aftershock“ des Regisseurs Feng Xiaogang die ganze Nation. Der hinsichtlich Besucherzahlen und Einspielsumme bislang erfolgreichste chinesische Streifen, der die seinerzeitige Katastrophe noch einmal dramatisch in Szene setzte, ging den Zuschauern so zu Herzen, daß in manchen Kinos beim Kauf der Eintrittskarte kostenlos Papiertaschentücher gereicht wurden.

Wieder einmal schienen die Himmelszeichen nicht getrogen zu haben, denn am 9. September 1976 verbreitete sich in Windeseile die Nachricht, Mao Zedong sei um 0.10 Uhr gestorben. Der DPA-Korrespondent berichtete damals aus Peking: „Eine Schockwelle verbreitete sich durch die chinesische Hauptstadt. Fahrer hielten an, drehten ihre Autoradios auf volle Lautstärke und brachen mit den sich schnell ansammelnden Menschenmassen in lautes Schluchzen aus. Innerhalb einer Stunde wurden sämtliche Fahnen Pekings auf halbmast gesenkt.“ In den nächsten zehn Tagen zogen mehr als 300.000 Menschen an Maos in der Grroßen Halle des Volkes aufgebahrtem Leichnam vorbei, um Abschied vom „Großen Vorsitzenden“ zu nehmen.

Am 19. September erwies die Volksrepublik ihrem Gründer mit einer Massendemonstration die letzte Ehre. Auf dem Tiananmen, dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens, versammelten sich zwei Millionen Kundgebungsteilnehmer. Nicht nur in Peking, sondern in ganz China schwiegen die Menschen drei Minuten lang; überall heulten zeitgleich die Sirenen von Fabriken, Schiffen und Zügen. Das Zentralkomitee gab Anfang Oktober bekannt, eine Gedenkhalle für Mao errichten zu lassen, damit das Volk seine einbalsamierte sterbliche Hülle stets betrachten könne. Bis heute besuchen täglich Tausende das vor 34 Jahren gebaute Mausoleum.

Ungeachtet der landesweiten Trauer ging der Machtkampf damals weiter – er endete am 6. Oktober mit der Verhaftung der „Viererbande“. Zum neuen Parteichef wurde Hua Kuofeng gewählt, der noch zu Maos Lebzeiten zum Regierungschef und Ersten Stellvertretenden KP-Vorsitzenden ernannt worden war. Bereits am 30. April 1971, so hieß es offiziell, habe der schwerkranke Mao seinem Stellvertreter auf einem Zettel die Worte geschrieben . „Hast du die Sache in der Rand, ist mir leicht ums Herz.“ Ob dies der Wahrheit entsprach, wird sich wohl nie feststellen lassen. Der starke Mann hinter den Kulissen, der Sieger im Kampf um das Mandat des Himmels, war letztlich Deng Xiaoping.

1977 kehrte er in all seine Ämter zuräck und leitete ein Jahr später die so überaus erfolgreiche Reform- und Öffnungspolitik ein. Als Deng 1997 im Alter von 93 Jahren starb, hatte er die Volksrepublik auf jenen Weg geführt, der sie heute neben den USA zur bedeutendsten Wirtschaftsnation der Welt gemacht hat. Der „Viererbande“ wurde 1980 der Prozeß gemacht. Maos Witwe Jiang Qing, zum Tode verurteilt und nach zwei Jahren ebenso wie ihr Komplize Zhang Chunqiao zu lebenslanger Haft begnadigt, nahm sich 1991 das Leben. Zhang und Wang Nungwen, der auch eine lebenslange Strafe erhalten hatte, starben 1992 beziehungsweise 2005. Das letzte Mitglied der „Viererbande“, der ehemalige Propagandachef Yao Wenyuan, wurde 1994 vorzeitig aus 20jähriger Haft entlassen und stand seitdem in Peking unter Hausarrest. Er starb im Dezember 2001 an Diabetes. Im Rückblick läßt sich feststellen, daß das Jahr 1976, das für die meisten Chinesen als ein annus horribilis begonnen hatte, am Ende doch noch ein annus mirabilis geworden war – es war der entscheidende Wendepunkt in der jetzt fast 62jährigen Geschichte der Volksrepublik China.

 

Peter Kuntze, Autor mehrerer Bücher über China, war von 1978 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“.

Foto: Deng Xiaoping, Huan-Noten mit Mao-Konterfei, Chinaflagge und Long-Drache vor der Silhouette Shanghais: 1976 war das entscheidende Wendejahr

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