© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/11 28. Januar 2011

Unrechtsstaat DDR
Unerträgliche Verharmlosung
von Wolfgang Welsch

Nach über 20 Jahren wiederholt sich die Diskussion darüber, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Dieser kontroverse Streit hat etwas Zwanghaftes an sich, weil er um die angebliche „Ehre“ eines Teils der Deutschen geht, die im Unrechtsregime sozialisiert waren, sich arrangierten und dort ihre Heimat sahen. Die Jugend­erinnerungen und berufliche Karrieren mithin als ein „richtiges Leben“ betrachteten und dabei nicht erkannten oder wahrhaben wollten, daß es kein richtiges Leben im falschen geben kann.

Eine positive Erinnerung daran ist eine emotionale Rückerinnerung, beispielsweise an die Jugend, in der man menschliche Entwicklungen losgelöst vom politischen Umfeld sehen mag. Zweifellos ist aber das Unrecht ein Wesensmerkmal des SED-Regimes gewesen, das dessen Herrschaftspraxis bestimmte. Bei dem Begriff „Unrechtsstaat“ handelt es sich um die Bezeichnung eines Staates, der kein Rechtsstaat ist.

Obwohl ein gewisser Prozentsatz ehemaliger DDR-Bürger, vor allem aber die in der Partei „Die Linke“ versammelte Rest-SED und deren Apologeten, den Begriff „Unrechtsstaat“ und dessen Implikationen für sich als „unehrenhaft“ ablehnen, können sie nicht leugnen, in einer Diktatur gelebt zu haben. Bezeichnete sich doch der von Beginn an illegitime Staat „DDR“ selbst als „Diktatur des Proletariats“. Eine Diktatur ist jedoch zweifelsfrei die unbeschränkte Herrschaft einer Person oder Gruppe durch autoritären Zwang über die Mehrheit. Dies kann nur durch Gewalt und Repression auf Andersdenkende geschehen, also durch die Außerkraftsetzung von Recht und Menschenrecht. Wo dieses Recht vor Macht fehlt, herrscht Unrecht.

Die DDR war also zweifelsfrei ein Unrechtsstaat. Wer dies im Namen der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus als sophistische Begriffsverwirrung ablehnt, verharmlost die Willkür des SED-Staates. Denen, die dies als Kampfbegriff bezeichnen, muß man Verklärung der Diktatur vorwerfen. Ihnen geht es in Wahrheit nicht um die historische Definition dessen, was den SED-Staat ausmachte, sondern darum,   die politische Semantik der Begriffe zu bestimmen. Geradezu abenteuerlich mutet der Hinweis darauf an, daß es – genau wie in der DDR – auch in der Bundesrepublik Unrecht gäbe.

Da werden Staat und Gesellschaft verwechselt. Zudem wird mit diesem Argument bestritten, daß der SED-Staat in Theorie und Praxis ein Unrechtsstaat gewesen ist. In Rechtsstaaten gibt es freie und geheime Wahlen, deren Ergebnis respektiert wird. Schon die ersten Wahlen in der DDR waren gefälscht, getreu nach Ulbrichts Devise: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Der  SED-Staat war von Beginn an delegitimiert und ein Unrechtsstaat, weil seine Regierung von den Bürgern nicht gewählt worden war. Unrecht gab es zwar auch in Rechtsstaaten, aber dort werden die Regierenden zur Verantwortung gezogen.

Der SED-Staat hingegen kannte weder Meinungsfreiheit noch Freizügigkeit, weder politischen Pluralismus noch Gewaltenteilung. Er war auf die Verweigerung elementarster Bürgerrechte gegründet. Deshalb war er ein Unrechtsstaat. Diejenigen, die das SED-Regime mitgetragen haben, bewußt oder unbewußt, basteln noch immer an ihren Rechtfertigungsversuchen, die in ihrer banalen Ignoranz an den bekannten Satz erinnern: „Es wurden aber Autobahnen gebaut.“ Die ehemaligen DDR-Bürger können auch nicht stolz darauf sein, was sie unter den Bedingungen der Diktatur geleistet haben. Sicher waren sie nicht besser oder schlechter als die Westdeutschen. Sie hatten Familien und soziales Umfeld, ein Zuhause, das ihre Heimat war. So weit, so gut.

Die Unterschiede zwischen der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik und der DDR waren offenkundig: politische Pluralität und wirtschaftliche Chancen auf der einen, sozialistische Uniformität und zentral verwaltete Mangelwirtschaft auf der anderen Seite. Kann man unter diesen Bedingungen stolz auf eine Lebensleistung sein? Waren die Zwangsarbeiter der sowjetischen GULags stolz auf ihre Lebensleistung? Die Verklärer und Schönredner versuchen, die Menschen, die in der DDR gelebt haben, nachträglich als Geisel zu nehmen: Es wird so getan, als ob die Kritik am SED-Staat Kritik an den Menschen sei. Das ist eine infame Strategie.

Der Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte ist keineswegs abgeblasen. Schritt für Schritt hat sich auch die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ von ihrem gesetzlichen Auftrag entfernt. Vorläufig ist der strategische Wandel nur an Kleinigkeiten erkennbar. So hatte die Stiftung 2009 ein Stipendienprogramm „Aufbruch 89“ ins Leben gerufen, an dem sie die Rosa-Luxemburg-Stiftung beteiligte. Gerade diese der Linkspartei nahestehende Stiftung verklärt den SED-Staat in unerträglicher Weise. In ihren Veranstaltungen und Publikationen bietet sie hochrangigen Ex-MfS-Offizieren regelmäßig ein willkommenes Podium. Die Zuschüsse  an die Stiftung aus dem Bundeshaushalt erhöhten die Parteien nach gemeinsamen Absprachen im vergangenen Jahr deutlich. Den Opfern der Diktatur wird man dies kaum erklären können.

Noch einmal: Der SED-Staat war ein Unrechtsstaat. Die DDR-Verfassung definierte den Staat in ihrem ersten Artikel unmißverständlich als das „Herrschaftsinstrument der Arbeiterklasse“ und formulierte als Staatsziel den Sozialismus: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Damit war klar, daß für Andersdenkende kein Platz war. Wer Grund- und Menschenrechte einforderte, verstieß in der Logik des Systems gegen die staatliche Ordnung und mußte bestraft werden.

Die DDR hatte zwar die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen unterschrieben, hielt die damit verbundenen Verpflichtungen jedoch zu keinem Zeitpunkt ein. Eine Gewaltenteilung gab es nicht. Der in Gesetze gegossene Staatsterrorismus der DDR wurde durch das Ministerium für Staatssicherheit in grausamer und brutaler Weise mit Leben erfüllt. Die Stasi trat in das Erbe der Gestapo ein, übernahm nicht nur die Zuchthäuser von den Nationalsozialisten, sondern oft auch deren Methoden. Die marxistische Ideologie des Hasses auf Andersdenkende produzierte in vierzig Jahren SED-Staat über 200.000 politische Häftlinge, die unter unmenschlichen Bedingungen in Zuchthäusern und geheimen Haftanstalten der Stasi schwere seelische und körperliche Schäden davontrugen.

Die verklärende DDR-Darstellung führt dazu, daß die Opfer des SED-Staates als Störer auf dem Weg zur „inneren Wiedervereinigung“ dargestellt werden. Aber nicht die Opfer stören diesen Prozeß, sondern diejenigen, die das gescheiterte Regime verteidigen und schönreden. Die trauernden Hinterbliebenen des Sozialismus, nicht das Volk, sondern die Funktionselite des SED-Staates und Tonangebende unter seinen Intellektuellen, sahen mit dem Sturz der Diktatur vor über 20 Jahren ihre schöne Scheinwelt in Kommerz und Konsum untergehen. Als wenn die Wiedervereinigung ein Versailler Diktatfrieden der Sieger über die Besiegten gewesen wäre, von Deutschen über Deutsche.

Hier blitzt nichts anderes auf als sozialistisches Gedankengut, inhaliert durch die vormalige Systemnähe vieler Schriftsteller, Künstler und Intellektueller. Ihre Biographien sind anerkannt, auch wenn es sich um Duckmäuser, Wegseher und Anpasser gehandelt hat, die sich vom Gedanken der Freiheit nicht anstecken ließen und den Mächtigen zu Willen waren, immer mit scharfem Blick auf die nächste genehmigte Westreise. Die Intellektuellen des Westens hatten ihre Visionen aus dem Kulturpessimismus des Feuilletons bezogen und sahen sich nach dem Untergang des SED-Staates getäuscht. Seitdem verharren sie mehr oder weniger sprachlos.

Das Eigeninteresse der politischen Akteure ist nicht zu übersehen. Würden sie die widerständigen Opfer der Diktatur angemessen entschädigen, wäre dies auch ein politisches Signal: Die Würdigung ihrer Verdienste machte zugleich das Versagen derer in Ost und West deutlich, die in völliger Verkennung der Funktion einer Diktatur diese reformieren wollten oder sich ihr andienten. Beide Gruppen sind in einer neuen politischen Klasse vereint: Es sind die Verklärer. Erklärte der Chef der letzten frei gewählten DDR-Regierung, Lothar de Maizière (CDU), 1990 noch, die DDR war ein Unrechtsstaat, so teilt er heute die Meinung der Verklärer, daß die DDR kein Unrechtsstaat gewesen sei.

40 Jahre DDR-Unrecht führten nur zu 42 Verurteilungen mit einer zu verbüßenden Haftstrafe. Die Opfer fand man mit Almosen ab, die zudem einkommensabhängig sind. Selbst objektive Beobachter charakterisieren dies als zynisch. Dagegen wurde im Bundestag 2009 das „Ministergesetz“ durchgewinkt. Alle Angehörigen des letzten DDR-Kabinetts, inoffizielle Mitarbeiter der Stasi, Aktenvernichter sowie der Justizminister Kurt Wünsche (LDPD), der diese Funktion schon unter Ulbricht und Honecker ausübte und das politische Strafrecht verschärfte, erhalten nun eine „Ehrenpension“ für ihre „Verdienste um die deutsche Einheit“.

Wie dieses zynische Geschenk auf die Opfer der Diktatur wirkt, darüber machte sich niemand in den Parteien Gedanken. Ein Ausdruck für die Mißachtung des Widerstands durch die deutsche Politik seit 1990. Dabei hatte die Abgeordnete Agnes Katharina Maxsein (CDU) bereits am 14. Juli 1954 für die Regierungsfraktion im Deutschen Bundestag erklärt: „Wir haben die Menschen in der DDR im Widerstandskampf zu stärken, sie freudiger zu machen, um ihnen das Bewußtsein zu geben, daß ihre Leiden bei ihren Brüdern und Schwestern in der Bundesrepublik voll anerkannt und gewertet werden.“ Das klingt in den Ohren der Verfolgten heute wie Hohn.

Für die Dabeigewesenen gibt es kein Vergessen. Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen. Die allermeisten Menschen würden Widerstand als sinnlos bezeichnen; damals, im NS-Staat, und zuletzt im SED-Staat. Widerstand gegen Unrecht ist aber nie sinnlos. Er ist vielmehr ein leuchtendes Beispiel für die kommenden Generationen. Bestenfalls, lehrt Aischylos, zeigt die Lektion Wirkung.

Die alte Frage bleibt: Wie lange? Es ist die selbstverständliche Pflicht der Bundesregierung, die Generalamnestie staatlicher Verbrechen im Einigungsvertrag aufzuheben, die Untaten des SED-Staates durch Historikerkommissionen aufzuklären und die Täter zu bestrafen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nicht. Die Beschäftigung mit der Geschichte kann die Gegenwart erhellen. Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, trauert dem Unrechtsstaat ernsthaft nach. Die DDR war eine perfide, unmenschliche Diktatur.

 

Dr. Wolfgang Welsch, Jahrgang 1944, Politologe, kam 1964 für sieben Jahre in DDR-Haft und wurde nach dem Freikauf 1971 Fluchthelfer. Er überlebte mehrere Attentate des Ministeriums für Staatssicherheit. Heute ist er als freier Autor tätig.

Wolfgang Welsch: Die verklärte Diktatur. Der verdrängte Widerstand gegen den SED-Staat, Helios, Aachen 2009. Anhand zahlreicher Fallbeispiele schreibt das Buch die Geschichte des vergessenen Widerstandes gegen das SED-Regime neu.

Foto: Staatsemblem im Stacheldraht: Über 200.000 politische Häftlinge in 40 Jahren erlebten die DDR als Gefängnis 

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