© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/11 28. Januar 2011

Elend für den Erbfeind
Deutsche in Kriegsgefangenschaft, Teil V: Als Juniorpartner der Siegerstaaten beanspruchte de Gaulle Kriegsgefangene / In Frankreich trafen diese geliehenen Sklaven auf die schlechtesten Bedingungen bei den Westalliierten
Dag Krienen

Anfang 1945 von seinen Verbündeten gnadenhalber in den Kreis der Sieger- und Besatzungsmächte aufgenommen, entwickelte der neu konstituierte französische Staat unter der Führung Charles de Gaulles einen großen Appetit auf deutsche Kriegsgefangene, die er sowohl zur symbolischen als auch zur ökonomischen Festigung seines wiedererlangten Großmachtstatus benötigte, der zunächst kaum reale Substanz besaß. Aber auch bei der Beschaffung dieser prisonniers de guerre (PG) war die „Siegermacht“ auf fremde Hilfe angewiesen, nachdem die Franzosen 1944/45 gerade einmal 240.000 eigene Gefangene gemacht hatten. Zwischen Februar 1945 und dem Frühjahr 1946 wurden auf der Basis interalliierter Abkommen insgesamt etwa 740.000 Deutsche aus amerikanischem und 25.000 aus britischem in mehreren Kontingenten in französisches Gewahrsam übergeben.

Insgesamt gingen von 1942 bis 1946 gut eine Million deutsche Soldaten durch französische Gefangenenlager. Zu keinem einzelnen Zeitpunkt befanden sich aber mehr als 710.000 in französischen Händen. Ein großer Teil der PGs, die die Franzosen 1945 aus US-Lagern in Frankreich und Belgien sowie den Rheinwiesenlagern in ihrer Besatzungszone übernommen hatten, befand sich in so schlechtem Zustand, daß sie als absolut arbeitunfähig rasch entlassen wurden. Die letzten, im Frühjahr 1946 überstellten Gefangenen, darunter 55.000 aus den USA „repatriierte“ Deutsche (JF 49/10), wurden deshalb vor der Übergabe sorgfältig von einer amerikanisch-französischen Ärztekommission selektiert. Im Herbst 1945 sorgte die aus politischen Gründen erfolgende Entlassung der meisten Gefangenen österreichischer Herkunft für eine Verminderung der Zahl der PGs. Hinzu kamen die vielen, erstaunlich oft erfolgreichen Fluchtversuche (80.000 von 170.000 registrierten) – und nicht zuletzt die zahlreichen Todesfälle in französischer Gefangenschaft.

Wie viele Kriegsgefangene insgesamt im französischen Gewahrsam starben, dazu gibt es wie im Fall der US-Lager in Europa keine verläßlichen Angaben. Die einschlägigen Aktenbestände sind bis heute praktisch nicht zugänglich. Gemäß Abschlußbericht der französischen Kriegsgefangenenverwaltung sollen insgesamt 21.866 deutsche PGs verstorben sein, die meisten davon im Jahre 1945. Kritische französische Autoren gehen indes von bis zu 70.000 Toten aus, verbeamtete deutsche Historiker wie Rüdiger Overmans von mindestens 30.000 bis 40.000. Die höchsten Opferschätzungen, 167.000 bis 408.000, stammen wiederum vom kanadischen Publizisten James Bacque (JF 3/11).

Die elenden Lebensverhältnisse und der Tod der deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich waren, anders als im amerikanischen Fall, nicht das Nebenprodukt einer Umerziehungsmaßnahme. Das zentrale Ziel der Regierung de Gaulle war nicht Umerziehung oder Bestrafung der Gefangenen, von denen sie anfangs nicht weniger als 1,75 Millionen zu benötigen glaubte, sondern ein Maximum an Arbeitsleistung. Paris war dabei an sich durchaus bereit, den PGs zum Erhalt ihrer Arbeitsfähigkeit hinreichend Lebensmittel, Unterkunft, Bekleidung sowie medizinische Betreuung zukommen zu lassen. Zudem hatte es sich explizit verpflichtet, sie gemäß der Genfer Konvention von 1929 zu behandeln. Objektiv besaß die Regierung aber weder die wirtschaftlichen Mittel noch genug politische Kontrolle über die nachgeordneten Organe, um die Gefangenen angemessen ernähren und bekleiden sowie völkerrechtskonform behandeln zu können. Aufgrund des großen Appetits auf Zwangsarbeiter forderte Paris aber ungeachtet der absehbar fatalen Folgen von den Amerikanern dennoch ständig die Übergabe von immer neuen Kontingenten und verschärften dadurch die Misere der PGs enorm.

Anfangs wurden die Gefangenen in elenden Sammellagern ohne Infrastruktur festgehalten, mit allen typischen Merkmalen solcher Lager: kaum bzw. völlig unzureichende und unregelmäßige Verpflegung, mangelhafte Unterkünfte, kaum Hygiene und medizinische Betreuung sowie völlig willkürliche Behandlung durch die oft von selbsternannten Maquisards (Partisanen) gestellten Wachen. Eine zentrale Gefangenenverwaltung wurde erst allmählich aufgebaut. Deren Einfluß auf das Schicksal der meisten PGs blieb aber stets begrenzt, da nur ein Bruchteil von ihnen dauerhaft in den zentralen Lagern, den dépôts, untergebracht war. Die meisten von ihnen wurden als Zwangsarbeiter an private Unternehmer ausgeliehen, die auch für ihre Verpflegung, Unterbringung und Bewachung zuständig waren und dabei nicht selten recht willkürlich verfuhren.

In der ersten Zeit sahen sich die deutschen Soldaten zudem mit dem ungezügelten Haß der Bevölkerung konfrontiert. Bemerkenswerterweise änderte sich dies mit der Heimkehr der zuvor in Deutschland kriegsgefangenen Franzosen ab Ende 1945. Sie brachten in der Regel, gerade auch dort, wo sie Posten im Gefangenenwesen übernahmen, den prisonniers mehr Verständnis entgegen als jene Franzosen, die oft durch Übergriffe auf die deutschen Gefangenen nur ihre Vergangenheit als Kollaborateur vergessen machen wollten.

Vor allem eine prägende Erfahrung mußten nahezu alle deutschen Gefangenen in Frankreich bis Anfang 1947 machen: Hunger. In einer Zeit, in der auch die französische Zivilbevölkerung mit relativ knappen Lebensmittelrationen auskommen mußte, standen die PGs am Ende der Nahrungskette. 1945 lagen die Rationssätze in den Sammellagern und dann den regulären dépôts zeitweise weit unter dem Existenzminimum.

Ähnlich wie in den amerikanischen Lagern in Europa bot die Arbeitsaufnahme den Gefangenen praktisch die einzige Möglichkeit – sieht man von dem Eintritt in die Fremdenlegion ab –, den allgegenwärtigen Hunger zumindest zu mildern. Wer in der Landwirtschaft bei einem gutwilligen Bauern unterkam, hatte Chancen, ihm ganz zu entkommen. Bei den meisten anderen Arbeitskommandos wurden zumindest mehr Kalorien als in den dépôts verabreicht, gelegentlich ergab sich die Möglichkeit, am oder auf dem Weg zum Arbeitsplatz irgend etwas Eßbares zusätzlich zu „organisieren“. Doch änderte sich an der chronischen Unterernährung der meisten Gefangenen bis Anfang 1947 nur wenig. Überlieferte Fotos aus dieser Zeit zeigen durchweg bis auf die Knochen abgemagerte Männer.

Als absolut mangelhaft erwies sich bis Anfang 1947 auch die Unterbringung, Kleidungsausstattung und die hygienische sowie medizinische Versorgung der PGs. Im Oktober 1945 riefen die Franzosen in ihrer Besatzungszone sogar zu einer Kleiderspende für die prisonniers auf. In der besonders kritischen Zeit im Spätsommer 1945, als durch die Transfers aus den US-Lagern die Zahl der Gefangenen in Frankreich enorm schnell anwuchs, verdankten viele ihr schieres Überleben allein den Lebensmittel- und Sachspenden sowie den Interventionen des Internationalen Roten Kreuzes. Daß die Katastrophe nicht noch größeren Umfang annahm, lag letztlich jedoch daran, daß die USA trotz weiterer französischer Anforderungen die Überstellungen im Spätsommer 1945 zeitweise und im Frühjahr 1946 ganz einstellten. Erst danach bot sich überhaupt die Chance, die Lage der deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich auf niedrigstem Niveau zu konsolidieren und dann ganz allmählich zu verbessern. Zur Gefangenschaft, zum Hungern und zur Zwangsarbeit verdammt blieben sie aber noch jahrelang, teilweise bis Ende 1948.

Zwangsarbeit war neben dem Hungern die zweite prägende Erfahrung, die praktisch alle Kriegsgefangenen in Frankreich machen mußten. Da in diesem Land der Arbeitseinsatz in einer sehr spezifischen Weise organisiert wurde und die jeweiligen Lebensumstände der Gefangenen maßgeblich beeinflußte, wird darauf in einem gesonderten Beitrag dieser Reihe noch näher eingegangen.

Foto: Kriegsgefangene Wehrmachtssoldaten müssen 1945 Minen räumen: Diese den Genfer Konventionen widersprechende Behandlung (bis zu 40 Prozent Todesopfer) wurde vor allem von den Franzosen angewandt

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