© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/11 04. Februar 2011

Zeitschriftenkritik: Spiegel Geschichte – Die Deutschen im Osten
Allzu späte Würdigungen
Jörg-Bernhard Bilke

Wenn es darum ging, die Vertriebenen als „Ewiggestrige“ oder „Revanchisten“ zu brandmarken, war Der Spiegel jahrzehntelang schnell zur Stelle. Jetzt aber, 65 Jahre nach Kriegsende und dem Wegsterben der letzten Ostdeutschen, widmet diesen nun die Reihe Spiegel Geschichte ein ganzes, 148 Seiten umfassendes Heft: „Die Deutschen im Osten. Auf den Spuren einer verlorenen Zeit“.

Der in die vier Kapitel „Siedler im Osten“, „Fremde, Freunde, Nachbarn“, „Krieg, Flucht, Vertreibung“ und „Schatten der Vergangenheit“ gegliederte Stoff verdeutlicht, wie wichtig die ostdeutsche Geschichte und Kultur für das Selbstverständnis der heutigen Deutschen sind. Da liest man einen Aufsatz „Neue Schlüssel zur Geschichte“ mit Verweisen auf die „Enkelgeneration der Vertriebenen“, die die „Vergangenheit unverkrampfter“ sieht, weitere Artikel berichten über die „wechselvolle Geschichte der 1348 gegründeten Universität Prag“ und den wirtschaftlichen „Erfolg der mittelalterlichen Hanse“. Der Stuttgarter Emeritus Norbert Conrads würdigt „Schlesien zwischen Polen, Habsburgerreich und Preußen“ als „Hort der Toleranz“, während der Germanist Johannes Saltzwedel die unvergleichliche Barockdichtung aus Schlesien vorstellt, deren bedeutendster Vertreter Andreas Gryphius aus Glogau war. Der Historiker Andreas Kossert ist mit einem Interview über die politische und kulturelle Sonderstellung Ostpreußens vertreten, während Christian Neef darüber schreibt, wie in der heutigen russischen Provinz Oblast Kaliningrad die Regionalregierung die deutsche Geschichte von 1231 bis 1945 am liebsten vergessen machen möchte, wogegen die aus allen Teilen der Sowjetunion stammende Bevölkerung emsig nach Spuren deutscher Vergangenheit sucht. Erfreulich ist, daß neben den „reichsdeutschen“ Vertriebenen auch die aus Rußland, Ungarn, Serbien, Kroatien und Rumänien ausführlich benannt werden, während die aus der Tschechoslowakei, Polen und dem Baltikum leider unerwähnt bleiben. Auch die allzu willkürlich ausgewählte weiterführende Literatur ist kritikwürdig und bedürfte dringender Ergänzungen.

Das Schicksal der Ostdeutschen 1945 kommt in Artikeln über das Wüten der Roten Armee, über die „Breslauer Apokalypse“ und „Die Zeit der Abrechnung“ zur Sprache. Hier wird auch endlich das Thema Vergewaltigung von zwei Millionen Mädchen und Frauen angeschnitten, worüber die Aachener Physikerin Gabriele Köpp, 1929 in Schneidemühl geboren, erst 2010 unter vollem Namen das autobiographische Buch „Warum war ich bloß ein Mädchen? Das Trauma einer Flucht 1945“ veröffentlicht hat. Daß vorrückende Rotarmisten auch Tausende von Polinnen oder Slowakinnen vergewaltigten, läßt das Argument brüchig werden, die Verbrechen der „Roten Armee“ seien nur die Vergeltung von Untaten der Wehrmacht gewesen. Und unter dem Titel „Aktenzeichen ungelöst“ weist der langjährige Spiegel-Redakteur Thomas Darnstädt darauf hin, daß die Vertreibungsverbrechen „noch immer ungesühnt“ sind.

Kontakt: „Spiegel Geschichte“ erscheint zweimonatlich im Spiegel Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg und kostet 7,50 Euro E-Post: spiegel@spiegel.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen