© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/11 04. Februar 2011

Chinas Aufstieg
Der rote Drache erwacht
von Joachim Feyerabend

Es ist Chinas großes Ziel, im 21. Jahrhundert die Nummer eins in der Welt zu werden“, postuliert der 1951 geborene chinesische Brigadegeneral Liu Mingfu. „Es gibt keine Grenzen für Chinas Aufstieg. Die Welt braucht eine neue Führung, und das können nur wir Chinesen sein“, fügt der Offizier selbstbewußt in seinem Buch „Chinas Traum“ hinzu – inzwischen in dem ostasiatischen 1,3-Milliarden-Volk ein Bestseller.

Der General spricht den meisten Bürgern mit ihrem durch den rasanten ökonomischen Aufstieg des Landes neu erwachten nationalen Selbstbewußtsein aus der Seele. Lange Jahre kolonialer Unterdrückung durch Europäer und die japanische Besetzung im Zweiten Weltkrieg können angesichts der globalen Erfolge mit solchem Elitedenken endlich kompensiert werden. Das probate Mittel auf dem Weg zur Supermacht, auch das hat Liu Mingfu parat: „Verwandelt ein paar Geldbeutel in Munitionssäcke, für einen friedlichen Aufstieg müssen wir erst militärisch aufsteigen.“

Liu ist nicht irgendein durchgeknallter Militarist, er bildet als Professor an der Nationalen Verteidigungsuniversität in Peking den Elitekader der nächsten Offiziersgeneration aus. Immerhin unterhält die Volksrepublik mit 2,5 Millionen Soldaten die größte Armee der Welt, verfügt über 18.500 Raketenabwehrsysteme, 13.200 Panzer und fast 10.000 militärische Flugzeuge. Die Machthaber führten bei ihrer Flottenparade zum sechzigjährigen Bestehen erstmals jetzt auch ihre starke U-Boot-Flotte vor und stellen demnächst neue eigene Flugzeugträger als Symbol ihrer Stärke in Dienst.

Im Ost- und Südchinesischen Meer registriert die pazifische US-Flotte bereits zunehmend aggressive Handlungen chinesischer Kriegsschiffe und sieht mittlerweile ihren Handlungsspielraum gefährdet. Das Pentagon jedenfalls ist in Alarmstimmung. Seine Experten weisen warnend darauf hin, daß Amerika demnächst seinen Status als stärkste Militärmacht in Südostasien verlieren könnte, China beispielsweise schon jetzt durchaus in der Lage sei, fünf von sechs US-Stützpunkten in der Region zu vernichten. Auch das weiter entfernte Guam sei keineswegs mehr sicher.

Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, wenn Chinas Regierungs­chef Wen Jiabao den Präsidenten der schwächelnden Supermacht, Barack Obama, bei internationalen Konferenzen schon mal elegant abblitzen läßt. Schließlich stand der Ende 2009 bei den roten Machthabern mit 534 Milliarden Dollar in der Kreide. Chinas Bevölkerung, so ließ der Premier bei solchen Gelegenheiten verlauten, habe in den letzten Jahren gespart und den hohen Konsum der Amerikaner sowie die hohen Kredite Washingtons finanziert. Es sei deshalb angebracht, nicht mit dem Finger auf China zu zeigen, sondern erst im eigenen Haus Ordnung zu schaffen. Wahrhaft starker Tobak auch für einen Barack Obama und sein globales Sendungsbewußtsein.

Der auf dem atemberaubenden Aufstieg des Landes gegründete Rüffel aus dem Land des Lächelns drängt die einstmals allmächtigen Vereinigten Staaten  inzwischen in eine neue, ungewohnte, sicher aber bescheidenere Position auf der Weltbühne zurück, auch wenn das viele Amerikaner noch nicht wahrhaben wollen. Den Prozeß der Ablösung einer Weltmacht, so spötteln Chinas Militärs, habe es in der Vergangenheit schon mehrfach gegeben. Der Vorhang fiel für Babylonier, Ägypter, Griechen und Römer, Spanier, Portugiesen und Briten, der Lorbeer des Weltprimus falle nun China zu.

Es steht außer Zweifel, daß gegenwärtig die Karten der Weltpolitik neu gemischt werden. Die jahrhundertelang geübte atlantische Sicht aller Dinge, bis hin zur Gestaltung von Weltkarten, neigt sich zugunsten eines pazifischen Zeitalters ihrem Ende zu. China ist auf dem Weg zur führenden Wirtschaftsmacht auf dem Globus, wird militärisch dominanter, spricht ein gewichtiges Wort in der Weltraumfahrt mit, erwartet den größten Auto-Boom der Geschichte, entwickelt in Konkurrenz zu Boeing und Airbus einen eigenen Langstreckenjet, baut sein Schienennetz von 6.500 auf 18.000 Kilometer aus, auf dem dann Blitzzüge mit 380 Stundenkilometern verkehren. Die Produktionsmengen von mehr als 100 chinesischen Erzeugnissen nehmen nach Handelskammerstatistiken weltweit Platz eins ein. Sogar zwei von drei in Deutschland aufgebauten Solarmodulen stammen aus der Volksrepublik.

Mit der wirtschaftlichen Macht wachsen auch die politischen Einflußmöglichkeiten, verändern sich die Warenströme. Wer mit der dynamischen Konjunkturlokomotive gute Geschäfte machen will, sollte in Zukunft nicht mehr mit erhobenem Zeigefinger einreisen. Allein der wachsende Binnenmarkt reicht aus, um Großunternehmen aus dem Boden sprießen zu lassen – eine ähnliche Situation, wie sie lange Jahre die wirtschaftliche Entwicklung in den USA mit ihrem riesigen Binnenmarkt positiv gekennzeichnet hat.

Der Rohstoffhunger der aufstrebenden Wirtschaftsmacht verändert die gesamte Weltpolitik. So gilt China auf der Jagd nach Ressourcen in Afrika längst als größter Investor und scheut sich nicht, mit den umstrittensten Diktatoren und Schurkenstaaten Geschäfte zu machen. Es sichert sich auf dem Schwarzen Kontinent durch gezielte Entwicklungshilfe Absatzmärkte von morgen. Diesen Gesichtspunkt haben die ehemaligen Kolonialherren aus dem Westen lange sträflich vernachlässigt.

Vom Westen in seiner Tragweite ebenfalls kaum erkannt, setzt die enge Verbindung Pekings zum pazifischen Nachbarn Australien neue politische Schwergewichte. Deals wie das 2009 abgeschlossene Megageschäft mit Canberra über Gaslieferungen im Werte von 29 Milliarden Euro in den nächsten 20 Jahren machen die wirtschaftlichen Vernetzungen klar. Zudem orderten die Chinesen 58 Millionen Tonnen australisches Eisenerz, signalisierten Interesse am Kohlekonzern „Felix Resources“, kauften bereits zum Preis von 44 Milliarden Euro 30 Millionen Tonnen Kohle und bahnten  weitere Gold- und Urangeschäfte an. 2009 erreichte das Handelsvolumen Australiens mit der roten Republik 85 Milliarden Dollar. Peking braucht die Ressourcen des fünften Kontinents, Canberra für seine Produkte den Markt des großen nördlichen Nachbarn. Das ist die Klammer, die die beiden unterschiedlichen Politsysteme aneinander bindet.

Nicht zuletzt wird der wirtschaftliche Aufsteiger Indien eine der ersten Geigen in diesem Konzert spielen. Auch Japan als Handelspartner der neuen „global player“ aus der Nachbarschaft sorgt für regen Schiffsverkehr. Zusammen mit den Chinesen kommt es so zu einer gigantischen Umlenkung von Warenströmen, Flug- und Schiffahrtsrouten, zu denen auch die Güterausfuhr des aufstrebenden brasilianischen Staates via Kap Hoorn oder Panamakanal durch den Pazifik beiträgt. Schon jetzt fließen 25 Prozent des Welthandelsvolumens durch die Malakka-Straße, die Indischen und Stillen Ozean miteinander verbindet.

Vom Westen kaum beachtet wurde die einseitige Erklärung Chinas, fast die gesamte Südchinasee zwischen dem Malaiischen Archipel und Macau als chinesisches Hoheitsgebiet in die Verfassung zu schreiben. Vordergründig geht es dabei um die Öl- und Gasblasen in diesem Seegebiet und bei den herrenlosen Spratly-Inseln, doch könnte die Führung der Volksrepublik jederzeit Durchfahrtsgebühren verlangen, den Güterverkehr beispielsweise nach Japan zu spritfressenden Umleitungen zwingen. Dieser Gebietsanspruch könnte erst recht zu einer Bedrohung werden, wenn über die Nordostpassage durch die bald vielleicht eisfreien arktischen Gewässer ein vermehrter Seeverkehr einsetzt.

Geschickt zieht Peking alle Register der Diplomatie. So werden zur Sicherung von mehr Einfluß im Stillen Ozean die Staatschefs auch der kleinsten Inselstaaten Melanesiens, Mikronesiens oder Polynesiens in Peking stets vom Staatsoberhaupt empfangen – ein Privileg, das manchem westlichen Politiker nicht zuteil wurde. Mit bilateralen Abkommen und großzügigen Krediten für Entwicklungsprojekte werden zahlreiche Nationen gebunden, zuletzt Mauretanien. Dort dürfte sich der Ausbau der Fischereiwirtschaft für 100 Millionen Dollar deutlicher auf eine Eindämmung des Al-Qaida-Einflusses auswirken als französische Militäroperationen und amerikanische Drohnen.

Mit 100 Ländern wurden inzwischen bilaterale Abkommen geschlossen, Teil einer ganz zielgerichteten Politik. Größtes Projekt dieser Art ist die geplante Freihandelszone zwischen der Volksrepublik und den sogenannten Asean-Ländern Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand und Brunei. Sie soll später um Kambodscha, Laos, Myanmar und Vietnam erweitert werden.

Der Trend ist klar, Süd- und Ostasien, der pazifische Raum, wo drei Viertel der Weltbevölkerung konzentriert sind, schicken sich an, das neue Zentrum der Weltwirtschaft zu werden. Der atlantische Schwerpunkt verblaßt dagegen. Rund 50 Prozent der ostasiatischen Waren verbleiben ohnehin in der Region. Die angestrebte Schaffung einer generellen ostasiatischen Wirtschaftsunion scheint eine reale Zukunftsoption. Schon jetzt besteht zwischen dem neuen Indien, Australien und Neuseeland ein Freihandelsabkommen, bei dem die Zölle auf 400 Produkte entfallen.

Der Boom der Chinesen wirft noch ein anderes, weltpolitisches Problem auf. Angesichts der schwelenden Wirtschafts- und Finanzkrisen in der westlichen Welt werden schließlich die in Jahrhunderten errungenen Werte des Westens in Frage gestellt. Denn es zeigt sich explizit, daß die Mißachtung von Menschenrechten, die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und die Unterwerfung anderer Nationalitäten, wie jener der Tibeter, China zu wirtschaftlicher Prosperität verhalf.

Auch die Möglichkeiten, ökonomische Großprojekte schnell durchzusetzen, sind in einem totalitären System gegeben. Als Beispiel mag der Ausbau des Hafens Shanghai dienen. Dort wurde in Rekordzeit auf der vorgelagerten Inselgruppe Qiqu mit einem Aufwand von mehr als 50 Milliarden Euro ein gezeitenunabhängiger Tiefwasserhafen für die neue Generation von Containerschiffen gebaut und gleichzeitig eine Wohnstadt für eine Million in der Hafenwirtschaft Beschäftigte aus dem Boden gestampft. Die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze beträgt rund 28.000 – ein Projekt, wie es in Europa schon wegen der langwierigen Genehmigungsprozesse kaum denkbar wäre.

Im Prinzip hat der ökonomische Aufstieg Chinas unversehens das Wettrennen der politischen und ökonomischen Systeme, das mit dem Niedergang der kommunistischen Sowjetunion und dem Sieg des Kapitalismus beendet schien, insgeheim wieder in Gang gesetzt. Denn in Nachbarstaaten wie Indonesien und in anderen Staaten der Dritten Welt wird das chinesische Wirtschaftswunder nicht ohne Neid verfolgt und empfiehlt sich so unversehens zur Nachahmung.

 

Joachim Feyerabend, Jahrgang 1940, war als Journalist unter anderem für Spiegel, Welt, Weltwoche, Wirtschaftswoche und Bilanz tätig. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über weltweite Christenverfolgung („Weltenbrand auf Raten“, JF 51/10).

Joachim Feyerabend: Pazifik. Ozean der Zukunft, Koeh­ler-Verlag, Hamburg 2010. Das Buch schildert die exotischen Inselwelten des Stillen Ozeans – den Naturraum, die Einheimischen und die politisch-historischen Hintergründe.

Foto: Chinesischer Drache: Seit der Shang-Dynastie (15. bis 11. Jahrhundert vor Christus) gilt er als ein Symbol königlicher Macht – im Westen wird er eher als Bedrohung wahrgenommen 

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