© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/11 11. Februar 2011

Real geht vor Moral
Arabische Perestroika: Die deutsche Außenpolitik muß gerade jetzt nationalem Interesse folgen
Christian Vollradt

Viele Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte, hat es die westliche Staatengemeinschaft ganz gut ausgehalten mit dem Treiben der Potentaten im Maghreb oder am Nil. Daß dort die Opposition nieder-, weite Teile des Volkes kurz- und die Presse konform gehalten wurden, ist so wenig neu wie die Erkenntnis über einen prügelnden Polizeiapparat und folternde Geheimdienstschergen. Die aktuelle Ergriffenheit in den Kommentaren unserer Leitmedien wie in den Wortmeldungen unserer Politiker angesichts der Geschehnisse auf dem Ta-rhir-Platz in Kairo sind so wohlfeil – wie spät.

Den Herren Ben Ali, Mubarak und Konsorten haben alle die Hand geschüttelt, schwarze, rote, gelbe und sogar grüne Politiker. Das Interesse an den inneren Zuständen in ihren Ländern hielt sich – was Deutschland betrifft – in Grenzen. Was sich zur Zeit im arabischen Raum abspielt, hat offenbar kein noch so berufener Experte vorhergesehen (siehe Interview Seite 3).

Unser Nachbar Frankreich betrieb ein bißchen postkoloniale Spielchen, genannt Mittelmeerunion, wirklich ernst genommen wurden sie in der Europäischen Union (EU) nicht. Daß noch kurz vor dem Sturz des tunesischen Machthabers Hilfsangebote aus Paris zur Stützung des Regimes eintrafen, würde man dort am liebsten mit dem Mantel des Schweigens zudecken. Hätten der Westen im allgemeinen und Deutschland im besonderen also schon früher die Kooperation mit den Diktaturen an Europas Südflanke einstellen, die Außenpolitik mehr an Menschenrechten als wirtschaftlichen oder strategischen Interessen orientieren müssen?

„Wir haben nicht eines Richteramts zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben“, so lautet eine mögliche Entgegnung. Tatsächlich stammt sie nicht aus dem Jahr 2011, sondern aus dem 19. Jahrhundert. Otto von Bismarck soll – glaubt man seinen „Gedanken und Erinnerungen“ – mit diesen Worten seinen König 1866 davon abgehalten haben, das unterlegene Österreich zu demütigen. Während der preußische Monarch das moralisch (vermeintlich) Gebotene einforderte, argumentierte der Ministerpräsident – ganz Realpolitiker – mit dem, was angesichts der (nationalen) Interessen sinnvoll erschien.

Der Begriff der Realpolitik ist in Deutschland zeitweise in Verruf geraten. Zu scharf wirkte der Kontrast, wenn – wie in entsprechenden Debatten gerne üblich – die Folterpraxis autoritärer Regime demonstrativ der deutschen Exportbilanz gegenübergestellt wurde. Daß sich Außenpolitik nicht allein um die Frage von Markt oder Moral dreht, wurde von den neo-idealistischen Vereinfachern gerne unterschlagen.

Die Forderung, die Welt mit Demokratie und Menschenrechten zu segnen, büßt allerdings schnell an Charme ein, wenn das Zahlungsmittel aus Leichensäcken besteht. Afghanistan läßt grüßen.

Es ist durchaus nicht verwerflich, sich als europäische Mittelmacht und Exportnation mit vitalem Interesse am freien Seeverkehr dafür zu interessieren, daß der Staat am Suezkanal stabil und nicht krisengeschüttelt ist. Man muß nicht verhehlen, daß die kämpferische Unruhe der jungen Männer im Nahen Osten (in den betroffenen Staaten dort ist im Schnitt jeder zweite Bewohner unter 25 Jahre alt) auch Einfluß hat auf die Situation in den Vorstädten europäischer Metropolen. Und man muß kein Analytiker sein, um die Auswirkungen politischer, ethnischer oder religiöser Spannungen in Arabien an deutschen Zapfsäulen und damit im eigenen Portemonnaie zu spüren. Eine vernünftige Realpolitik sieht sich hier in der Pflicht, und das ist alles andere als unmoralisch.

Wer vom Wähler beauftragt und verpflichtet wurde, im deutschen Interesse zu handeln, muß im Ausland mit jedem reden, sei er Demokrat oder Despot. Und wer sich andererseits dem Prinzip der freien Wahl verpflichtet fühlt, muß nach einer solchen auch mit dem Gewinner leben, sei er auch ein Islamist, ein Muslimbruder.

Angesichts der revolutionären Umwälzungen und ihres ungewissen Ausgangs tut die deutsche Bundesregierung gut daran, sich nicht vorwurfsvoll an die Brust zu schlagen und das vermeintlich Versäumte zu bedauern. „Es ist nicht unsere Rolle“, äußerte Merkels Sprecher, „Rücktritte zu fordern“. Derartige Zurückhaltung und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten waren einst diplomatischer Usus. Heute wirkt die Aussage anachronistisch. Das Dilemma – man könnte auch von einer Blamage sprechen – der deutschen Außenpolitik besteht jedoch darin, daß sie die Sache nicht beim Namen nennt und aus Opportunismus mal Real- und mal Moralpolitik betreibt.

Wenn aus Gründen der Rohstoff- und Energieversorgung die Meßlatte an das russische Presserecht nicht allzu hoch angelegt wird – d’accord. Das ist eben Realpolitik. Wenn jedoch lange, vielleicht allzu lange am ägyptischen Despoten Mubarak festgehalten wurde, weil das Gegenteil sonst einem „Teil der deutschen Staatsräson“ (Angela Merkel), dem Existenzrecht Israels, abträglich gewesen wäre, was ist das dann? Etwa auch Realpolitik? Offenbar gilt für Kairo oder Amman, Riad oder vielleicht sogar Damaskus ein anderer Maßstab als für Teheran. Das kann man allerdings nur moralisch, nicht realpolitisch begründen.

Der Vorwurf, Berlin fahre einen Schlingerkurs und führe außenpolitisch einen Eiertanz auf, ist also nicht vollkommen aus der Luft gegriffen. Wer einerseits behauptet, es gebe „heute keine menschenrechtsfreien Politikbereiche mehr“ (Guido Westerwelle) und dies als „Querschnittsaufgabe“ seines Ministeriums bezeichnet, macht sich unglaubwürdig, wenn er andererseits räsoniert, der Westen dürfe „den Ägyptern keine Vorschriften“ hinsichtlich des Prozesses der Demokratisierung machen. Denn letzteres ist so zutreffend wie das Erstgenannte sinnlos ist.

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