© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/11 11. Februar 2011

„Die Wut in der arabischen Welt“
Der plötzliche Aufruhr in Nordafrika hat selbst die Experten überrascht. Erleben wir die Geburt eines neuen Nahen Ostens?
Moritz Schwarz

Herr Professor Brown, ist das das Heraufdämmern eines „neuen Nahen Ostens“, wie eines Ihrer Bücher heißt?

Brown: Ich würde sagen, eines anderen Nahen Ostens, vor allem eines anderen Ägyptens, sicher aber eines neuen Tunesiens. Doch bin ich keineswegs davon überzeugt, daß diese Welle wirklich nachhaltig den ganzen Nahen Osten erfassen wird. Allerdings ist das aus Sicht der internationalen Politik auch nicht entscheidend, da nicht alle Länder dort von gleicher Relevanz sind. So spielt Tunesien etwa kaum eine Rolle in der geopolitischen Architektur der Region, während Ägypten einer ihrer Pfeiler ist. Ein Wandel hier ist also von weit größerer Bedeutung als die Frage, ob der Funke nun auch etwa im Jemen überspringt.  

Was offensichtlich schon der Fall ist.

Brown: Offensichtlich ist, daß Zusammenhänge zwischen den Entwicklungen in Tunesien, Ägypten, Jordanien, Jemen, etc. existieren. Dennoch – täuschen Sie sich nicht –, daß es in einigen arabischen Staaten öffentliche Proteste gibt, ist nicht so neu, wie es vielen Zeitungslesern, die sich sonst nicht für die Region interessieren, nun erscheinen mag. Dies war keineswegs der erste Versuch der ägyptischen Oppositionsbewegung, Demonstrationen zu organisieren. Neu ist allerdings, daß es jetzt plötzlich solchen Erfolg hat.

Warum haben die Experten diese Entwicklungen nicht vorausgesehen?

Brown: So unangenehm es für unsereinen sein mag, aber Sie stellen diese Frage natürlich zu Recht. Man muß schon einräumen, daß auch die Fachwelt von den Ereignissen absolut überrascht worden ist. Ein bißchen erinnert es an 1989, auch damals ließen die Ereignisse viele Osteuropaexperten dumm dastehen.

Da fragt man sich natürlich: Wozu sind Experten eigentlich gut?

Brown: Ja, das verstehe ich. Allerdings, lassen Sie mich zur Ehrenrettung sagen: Tunesien war ein Polizeistaat, in dem man nichts offen sagen durfte, es war also auch für uns Fachleute entsprechend schwierig, über die tatsächliche Lage im Land ein objektives Bild zu gewinnen. Ägypten dagegen ist zwar eine Autokratie, die aber in der Regel nur gegen politische Aktivisten vorgeht. Privat konnte man dort seine Meinung meist ungestraft sagen. Ich erinnere mich, schon vor Jahren bei einem Besuch in Kairo in einer Auslage ein Buch mit dem Titel: „Ich hasse Husni Mubarak!“ gesehen zu haben. Sehr verbreitet war auch der Kniff der Medien, ausländische Experten zu Wort kommen zu lassen, die das öffentlich sagten, was die Redakteure eigentlich selbst gerne an Kritik laut geäußert hätten. Der Unmut zahlreicher Bürger über das Regime Mubarak war also ein offenes Geheimnis. Und das haben alle Experten durchaus auch korrekt festgestellt und richtig vorausgesagt, daß wenn dieses Regime jemals in Schwierigkeiten kommen würde, Mubarak nicht über ausreichend Rückhalt im Volk verfügt, um sich zu behaupten. So scheint es nun auch zu kommen. Insofern haben wir nicht alles falsch gemacht. Wir haben nur nicht vorausgesehen, daß es offenbar schon jetzt soweit ist. Ich denke, daß uns Fachleuten damit eine Lektion erteilt worden ist und wir künftig bescheidener auftreten sollten.

Vielleicht werden Sie ja nun noch in weiteren Fällen, sprich Ländern, überrascht?

Brown: Gerade habe ich gesagt, daß wir bescheidener auftreten sollten – nun  dennoch, bei aller Bescheidenheit: Das glaube ich eher nicht. Nehmen Sie Jordanien, wo der König bereits den Regierungschef entlassen hat. Auch dort gibt es zwar eine tiefe Kluft zwischen Regierung und Volk, aber es gibt auch eine Kluft in der Gesellschaft zwischen den Palästinensern im Land und den eigentlichen Jordaniern. So wird jede politische Frage dort nicht nur zu einer Frage zwischen Volk und Regierung, sondern auch zwischen den Volksgruppen. Und damit ist es sehr schwer, in Jordanien gemeinsame oppositionelle Forderungen aufzustellen. Ich kann mir daher nicht vorstellen, daß die Dinge sich in Amman derzeit so weit entwickeln könnten wie in Kairo oder Tunis. Der Jemen wiederum ist ein ganz anderer Fall: Dort hat die Regierung sowieso mit Aufständischen zu kämpfen, und der Staat hat nur teilweise die Kontrolle über das Land außerhalb der Hauptstadt.

Was wollen Sie damit sagen? „Den“ Nahen Osten gibt es nicht?

Brown: Ganz genau, so ist es. Zugegeben, die Kette der Ereignisse zeigt, daß derzeit durchaus so etwas wie eine gemeinsame große Erzählung unter der Überschrift „Wir, das Volk, gegen die Machthaber!“ entsteht. Aber wenn Journalisten und Politiker dann daraus gleich „den“ Nahen Osten machen, dann greift das zu weit. Denn trotz aller Gemeinsamkeiten und Interdependenzen unterscheiden sich die Länder und ihre Gesellschaften in ihren Traditionen, ihrer politischen Kultur und politischen Situation viel zu stark.

Die „offizielle“ Darstellung der Ereignisse lautet: Am 17. Dezember verbrennt sich der 26jährige tunesische Straßenverkäufer Mohammed Bouazizi, weil die Behörden seinen Stand schlossen. Das löst die „Jasminrevolution“ aus, die wiederum zum Zündfunken für den Aufstand in Ägypten wird. Ist das glaubwürdig oder muß es Faktoren im Hintergrund gegeben haben, die wir nicht sehen sollten?

Brown: Ich halte die Ereignisse durchaus für plausibel. Ich hatte eben dargestellt, daß die Fachwelt sich durchaus darüber im klaren war, wieviel Wut in der arabischen Welt herrscht. Nun, da die Menschen sehen, daß ihre Regimes, die ihnen bisher trotz allem immer als so mächtig erschienen sind, Schwäche zeigten, öffnete das die Schleusen. Daß die Bürger ihre bisher gefürchteten Machthaber erstmals hilflos, ja teilweise sogar kopflos erleben, bringt diese um jeden Respekt. Und einmal verloren ist es nahezu unmöglich, ihn wieder zurückzugewinnen.

Nun fragen sich alle, was kommt danach: Demokratie oder Islamismus? Sie haben erst im letzten Jahr eine Studie über „Islamische Bewegungen und demokratische Prozesse in der arabischen Welt“ verfaßt.

Brown: Ja, aber man muß derzeit genau aufpassen, wie einem die Frage gestellt wird: Hat die Demokratie in diesen Ländern überhaupt eine Chance? Da sage ich: Auf jeden Fall, kein Zweifel! Fragen Sie aber: Wird sich die Demokratie in diesen Ländern durchsetzen? Dann sage ich: Es besteht – wie gesagt – eine Chance, aber diese kann auch vertan werden.

Verständlich – aber die Antwort macht nicht wirklich schlauer.

Brown: Was jetzt in den Ländern mit Protesten passiert, ist, daß die Regimes mit Reformen reagieren und so etwas wie eine gemilderte Autokratie anbieten. Nun gibt es zwei Gefahrenszenarios: Erstens, die Opposition lehnt ab, weil ihr das natürlich nicht genug ist. Sie könnte damit aber verpassen, Einfluß auf den Transformationsprozeß zu gewinnen. Die Folge könnte sein, daß die entstehenden demokratischen Strukturen den bestehenden autokratischen Strukturen, die zudem völlig korrupt sind, ungemildert ausgeliefert sind. Daran drohen sie zu scheitern und obendrein sich ebenfalls den Virus der Korruption zuzuziehen. Zweitens, die Opposition läßt sich zu früh auf das Angebot der Regierung ein, bevor ausreichend Spielraum für das Entstehen demokratischer Strukturen entwickelt ist und diese scheitern dann daran. Sie sehen, es gibt nur ein relativ schmales Fenster dazwischen. Aber wie es nun kommen wird, ob es gelingt, durch dieses Fenster zu schlüpfen oder nicht, das kann Ihnen ein seriöser Fachmann zum jetzigen Zeitpunkt nicht verläßlich voraussagen.

Demokratie setzt eine entwickelte Bürgergesellschaft voraus. Existiert diese Voraussetzung denn in diesen Ländern überhaupt?

Brown: Es stimmt, daß es gewisse Faktoren gibt, die das Entstehen von Demokratie begünstigen. Aber das bedeutet nicht, daß es ohne diese völlig unmöglich wäre. Was zu beobachten ist – und das spielt eine große Rolle –, ist, daß Demokratie in diesen Ländern zunehmend als etwas Erstrebenswertes gilt, daß viele Bürger Hoffnung in sie setzen. Und das ist die Chance! Was die Bürgergesellschaft angeht, so haben wir auch da in den letzten zwanzig Jahren in einigen Ländern Fortschritte zu verzeichnen. Im Vergleich zum Westen sind diese Bürgergesellschaften freilich nur sehr rudimentär ausgebildet, aber im Vergleich zu dem, was es bisher in Ländern wie Ägypten gab, hat sich einiges getan. Wenn ich heute nach Kairo reise, dann komme ich in eine ganz andere Gesellschaft als bei meiner ersten Reise Anfang der achtziger Jahre. Damals kümmerten sich die Leute gar nicht um Politik, und sie hatten auch Angst davor, sich diesbezüglich zu exponieren. Heute dagegen sprechen sie darüber so selbstverständlich wie über ihre Geschäfte, Sport oder das Wetter.

Ist das die Folge von Internet und Mobiltelefonen, wie viele Journalisten meinen?

Brown: Ich würde widersprechen: Sicher, es gibt keinen Zweifel, daß die neuen Medien da auch eine Rolle spielen, aber zu glauben, das alles ginge auf ihr Konto, nein! Ich glaube, daß etwa das Satelliten-Fernsehen, das aus den neunziger Jahren stammt und das ich eher als ein im Grunde konventionelles Medium betrachte – zumindest würde ich es nicht zu dem zählen, was wir heute unter neuen Medien verstehen –, dabei eine ganz enorme Rolle gespielt hat. Im Gegensatz zu Twitter oder Facebook schauen das wirklich viele Ägypter und das seit vielen Jahren. Das hat sehr viel zum Wandel beigetragen. Und übrigens, auch sehr alte Technologien, wie etwa Flugblätter, haben dieser Tage keine unwichtige Rolle in Ägypten gespielt. Man sollte also nicht vor lauter Begeisterung für die neuen Aspekte das ganze Bild vernachlässigen.

Wird eine Demokratisierung nicht früher oder später zwangsläufig – ob in radikaler oder in gemäßigter Form – zu einer Islamisierung führen, wie wir das im Irak oder der Türkei beobachten können?

Brown: Nun, alle diese Länder sind mehr oder weniger sehr religiöse Gesellschaften und daher wird jede Form der Liberalisierung auch zu mehr Einfluß des Religiösen in der Öffentlichkeit führen. Ich sehe aber nicht, daß es in einem der Länder des Nahen Ostens einer islamistischen Partei gelingen wird, die Mehrheit zu gewinnen. Allerdings werden sie dennoch viele Wähler finden und so ein einflußreicher Faktor werden. Das ist der Preis, den die Demokratie im Nahen Osten kostet.

 

Prof. Dr. Nathan J. Brown, der Politologe und Experte für Demokratisierung und Konstitutionalismus im Nahen und Mittleren Osten ist Direktor des Institute for Middle East Studies an der George-Washington-Universität in Washington D.C. und gehörte diversen hochkarätigen Gremien zum Thema an. So ist er Mitglied im Beraterstab des „Project on Middle East Democracy“, leitete das „Palestinian American Research Center“, gehörte dem internationalen Beratungskomitee zur Ausarbeitung einer palästinensischen Verfassung an und beriet die Vereinten Nationen im Rahmen des UNDAP-Programms. Er veröffentlichte zahlreiche Studien, etwa zur ägyptischen   Muslimbruderschaft (2006) oder über „Islamische Bewegungen und demokratische Prozesse in der arabischen Welt“ (2010), sowie etliche Bücher wie: „The Rule of Law in the Arab World“ (2007), „The New Middle East“ (2008) oder „The Struggle over Democracy in the Middle East“ (2009) und jüngst „Between Religion and Politics“ (2010).

Foto: Proteste auf den Straßen (Kairo, am 4. Februar): „Das Volk hat seine bisher gefürchteten Machthaber erstmals hilflos erlebt. Einmal verlorenen Respekt gewinnen sie nicht mehr zurück.“

 

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