© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

Letzte Rettung: „Sitzenbleiben“
Bildung: In Bayern und Niedersachsen sorgen Turboabi und Doppelabitur für Unmut / Ansturm auf Universitäten
Heino Bosselmann

Das Unbehagen wächst. Grund:  In den bevölkerungsreichen Bundesländern Niedersachsen und Bayern gehen die ersten G8- und die letzten G9-Gymnasiasten nach zwölf beziehungsweise dreizehn Jahren gemeinsam ins Abitur. Schüler wie Eltern empfanden schon die Verkürzung der Schulzeit auf nur acht Jahre Gymnasium (G8) als harte Belastung, jetzt kommt als Streßfaktor die Verdopplung eines Jahrgangs hinzu, der sich durch die strukturelle Engstelle in die Prüfungen preßt und in hoher Zahl an die Universitäten drängt.

Um dem Druck zu entgehen, haben sich ganze Schülergruppen entschieden, einfach ein Jahr zu wiederholen. Sie hängen es freiwillig an, um die staatlich verordnete Eile aus eigenem Entschluß abzubremsen und so die Oberstufenphase zu entzerren. So traten etwa aus dem Doppeljahrgang von insgesamt 185 Schülern an der Hannoveraner Käthe-Kollwitz-Schule 35 Schüler zurück! Mancher Pädagoge, wie der Leiter der Humboldt-Schule in Hannover, Henning Lawes, erkennt als Ursachen für das Ausweichen aber nicht nur das technische Problem, sondern einfach die „deutliche Abnahme der Leistungsbereitschaft“.

Die Internate verzeichneten bereits eine spürbare G8-Flucht, da das Kurzgymnasium jetzt Schulstunden aufhäuft, ohne dafür die geeigneten Strukturen, also Betreuungs- und Vertiefungsmöglichkeiten entwickelt zu haben, ganz zu schweigen von den Schulspeisungsangeboten und ausreichenden Räumlichkeiten, gar nicht zu reden von Kompensationen im künstlerischen und sportlichen Bereich.

Gegen hohes Schulgeld – in Salem und ähnlichen Häusern minimal 30.000 Euro im Jahr – garantieren die Internate kleine Klassen und exzellente Betreuung für Privilegierte, die ihren Sprößlingen gern eine Zusatzrunde bezahlen würden, die Salem unter Vermeidung des verpönten Begriffs „Sitzenbleiben“ marktgerecht als „Entschleunigungsjahr“ anbieten wollte. Das wurde kultuspolitisch abgepfiffen, damit nicht der Eindruck entstünde, nur reiche Kinder könnten die staatliche Sparmaßnahme umgehen.

Gestreßt und von psychosomatischen Symptomen geplagt, entwickeln die Schüler Vermeidungsstrategien und entgehen dem Doppelabi mit einem Auslandsjahr oder wechseln an Wirtschaftsgymnasien oder Waldorfschulen, wo das Abitur erst nach 13 Schuljahren ansteht. Überdies besteht die Sorge, daß für die Abiturienten des Jahres 2011 nicht genügend Studien- oder Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen.

Tatsächlich wird es eng, wenn mit dem Doppelabitur in den bevölkerungsreichen Bundesländern Bayern und Niedersachsen viel mehr Erstsemester an die  Hochschulen drängen; in Bayern allein 70.000, in Niedersachsen mit 50.000 doppelt soviel wie bisher. Mit den in Baden-Württemberg und Berlin 2012 und in Hessen und Nordrhein-Westfalen 2013 zu erwartenden Doppeljahrgängen müssen Universitäten und Hochschulen auf 275.000 zusätzliche Studienanfänger eingestellt sein. Bayern will daher bis 2011 38.000 Studienplätze schaffen, erweitert um 3.000 neue akademische Arbeitsstellen.

Als Beispiel für Niedersachsen: Die Leibniz-Universität der Landeshauptstadt hatte sich bei derzeit 3.200 dort immatrikulierten Erstsemestern bereits auf 25 bis 30 Prozent mehr Studienanfänger gefaßt gemacht, wurde dann aber auch noch von den Neuerungen in Sachen Abschaffung des Wehrdienstes überrascht, so daß die erwartbare Quote um weitere zehn bis zwanzig Prozent aufgestockt werden mußte.

Konservative Lehrerverbände lehnen das „Turboabitur“ mit starken Argumenten ab. Philologenchef Heinz-Peter Meidinger moniert, daß bei der zweiten Fremdsprache rund 100 Unterrichtsstunden wegfielen, und verweist auf die Ergebnisse einer Lateinvergleichsarbeit, denen zufolge die G8ler gegenüber den G9lern ein Schuljahr zurückliegen, obwohl stets beteuert wurde, die Unterrichtsstunden verringerten sich nicht, weil man – in Druck und Enge – an den 265 Jahreswochenstunden festhalte.

Der couragierte Lehrerverbandspräsident Josef Kraus sieht qualitativ das Niveau des Abiturs in Gefahr und warnt vor der fatalen Gleichsetzung von formaler Studierberechtigung und tatsächlicher Studierbefähigung. Inflationäre Zensierung, weiche Versetzungsbestimmungen und die Zahlenmystik einer noch jeden Abschluß optimierenden Abrechnerei von Notenpunkten sind am Gymnasium, das schon um die 50 Prozent aller Schüler besuchen, längst Usus, werden aber im G8 forciert, damit jeder, der jahrelang durchgezogen wurde, letztendlich auch eine Hochschulberechtigung erhält.

Abiturientenquoten von 70 Prozent sind politisch erwünscht, weil die Bildungspolitik allen alles zutrauen möchte und im Abitur einen wichtigen Garanten für sichere „Jobs“ sieht. Dieser Ansatz folgt der problematischen Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Gleichheit. Daß jeder als Talent gelten muß, funktioniert am besten per Dekret. Die politische Grundvereinbarung lautet also: Möglichst schnell möglichst viele mit möglichst geringen Kosten zum Abitur bringen! Die Folge: Jährlich brechen 55.000 Studenten, etwa 30 Prozent, ihr Studium ab, weil sie nicht mal den Anforderungen der verschult-verdünnten Bachelor-Prüfungen genügen. Plattformen wie www.studienabbrecher.com sprechen neuerdings von einer „Quarterlife-Crisis“.

Zurück zur Schule: Josef Kraus beklagt, daß das Gymnasium mit G8 enthauptet und ihm in Ländern, die gleichzeitig die Primarschule verlängern, auch noch die Beine amputiert würden, so daß dort im Gegensatz zum bewährten neunjährigen Gymnasium aus einem Guß ein Bonsai-Gymnasium entstünde, das in seiner Eingangsstufe, der Klasse 7, auf niedrigerem Niveau als früher ansetzen müsse. Zudem verliere ein solcher Torso den Charme, die Heranwachsenden über drei Lebensalter – Kindheit, Jugend, frühes Erwachsenenalter – zu fördern. Lehrplankürzungen und die unselige Phrase vom abzuwerfenden „Wissensballast“ hält er genau für den falschen Weg und zitiert Studien, die allenfalls 20 bis 25 Prozent der Schüler als abiturabel ansehen.

Den bayerischen Kultusminister Ludwig Spaenle wundert zu Recht, daß G8-Schüler in der elften Klasse nahezu gleich gut abgeschlossen hätten wie die G9-Schüler der zwölften. In den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch sind die Noten des Preßabis sogar besser! Nur in Latein lagen die Älteren vorn. Das läßt befürchten, daß G8 möglichst freundlich durchgebracht werden soll, um schwierige Grundsatzdiskussionen zu vermeiden.

In Sachsen-Anhalt, das schon 2007 ein Doppelabitur durchzog, waren die Leistungen des Schnelldurchgangs nämlich noch auffallend schlechter, insbesondere in Mathematik. Auf den Nützlichkeitsdogmen geschuldeten Bildungsökonomismus des Gymnasiums möchte die Technische Universität München daher mit einem einjährigen „Studium naturale“ reagieren, das die Defizite wieder aufholen läßt, womit allerdings die vermeintlich eingesparte Zeit wieder investiert wäre.

Bleibt die Frage, weshalb man Elf- und Zwölfjährige mit vollgestopften Schultagen zu Lasten ihrer Freizeit quält und sie mit Nachhilfen traktiert, wenn die Turboschule doch nicht halten kann, was sie verspricht, und die Qualität des Abschlusses sinkt.

Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein denken bereits um und stellen per Modellversuch, respektive mittels brandneuem Schulgesetz den Gymnasien die Rückkehr zum G9-Abitur frei. Und vergrößern so – gewollt oder ungewollt –  das bildungspolitische Tohuwahohu. 

 

Von G9 auf G8

Ende der Umstellung (Jahr)

Baden-Württemberg   2012

Bayern  2011

Berlin 2012

Brandenburg   2012

Bremen 2012

Hamburg 2010

Hessen 2013

Mecklenburg- Vorpommern   2008

Niedersachsen 2011

Nordrhein-Westfalen 2013

Rheinland-Pfalz 2016

Saarland 2009

Sachsen 1949

Sachsen-Anhalt 2007

Schleswig-Holstein 2016

Thüringen 1949

Foto: Im Bann des Turboabiturs: Um dem Druck zu entgehen, haben sich ganze Schülergruppen entschieden,  ein Jahr zu wiederholen. Sie hängen es freiwillig an, um die staatlich verordnete Eile abzubremsen

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